Mehrere Teilnehmer des angeblichen «Geheimtreffens» wehren sich mit eidesstattlichen Erklärungen gegen die Berichterstattung des Recherchenetzwerks. Beide Seiten wappnen sich für einen langen Rechtsstreit.
Der bisher folgenreichste Text dieses Jahres wird zum Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Das Landgericht Hamburg muss sich über den Artikel «Geheimplan gegen Deutschland» beugen, den das Recherchenetzwerk Correctiv am 10. Januar publiziert hat. Hamburg verfügt über eine der wenigen dauerhaft im Presserecht tätigen Zivilkammern. Der im Beitrag namentlich erwähnte Staatsrechtler Ulrich Vosgerau wehrt sich so gegen eine aus seiner Sicht falsche Darstellung.
Eine zusätzliche Dimension erhält der 32-seitige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durch sieben beigefügte eidesstattliche Versicherungen. Mit ihnen bekräftigen neben Vosgerau sechs weitere Teilnehmer des angeblichen Potsdamer «Geheimtreffens» im November 2023, Correctiv habe in entscheidender Hinsicht die Unwahrheit gesagt.
Eine «scherenschnittartige Darstellung»
Am zurückliegenden Wochenende fanden in Deutschland abermals Grossdemonstrationen «gegen rechts» statt. In München gab es, wie das veranstaltende Bündnis formuliert, «ein Meer aus Licht gegen das Dunkel von Hass und Hetze, Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus». Rund 100 000 Menschen beteiligten sich.
Auslöser für diese und zahlreiche vergleichbare Kundgebungen ist der Text vom 10. Januar. Correctiv war darin aufgrund eigener Recherchen zu dem Ergebnis gelangt, in Potsdam hätten rechte Kreise über Pläne diskutiert, wie man Menschen «aufgrund rassistischer Kriterien aus Deutschland vertreiben» könne, «egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht». Correctiv stützt sich laut eigenen Angaben auf «sehr zuverlässige Quellen», spezifiziert diese aber nicht näher.
Womöglich wurde das Treffen im Landhaus Adlon, an dem auch vier Politiker der AfD teilnahmen, abgehört. Zudem stellt sich die Frage, wie nah Correctiv der Bundesregierung steht. Eine Anfrage des AfD-Bundestagsabgeordneten Matthias Moosdorf an die Regierung ergab, dass die Correctiv-Geschäftsführerin und der Bundeskanzler «spontan am Rande der Konferenz Ostdeutschland 2030 am 17. 11. 2023» aufeinandertrafen, eine Woche vor dem «Geheimtreffen». Das Portal Nius hatte zuerst berichtet. Correctiv erhält auch staatliche Gelder.
Der Rechtsstreit wirft mehrere Fragen auf: Kann Correctiv belegen, was Vosgerau und die weiteren beteiligten Personen bestreiten, dass nämlich derartige Vertreibungspläne Gegenstand der Potsdamer Debatte waren? Hat Correctiv eine solche Tatsachenbehauptung überhaupt aufgestellt – oder nur diesen Eindruck erweckt? Und was genau bezweckt Vosgerau mit seinem Gang vor Gericht?
Die letzte Frage ist am einfachsten zu beantworten. Der Jurist will mit dem Antrag vom 9. Februar, der dieser Zeitung vorliegt, dasselbe erreichen wie mit seiner von Correctiv zurückgewiesenen Abmahnung vom 30. Januar. Correctiv solle nicht länger eine «bewusst unvollständige Darstellung der Äusserung des Antragstellers zum Thema Remigration deutscher Staatsbürger» vertreiben und auch keine «bewusst unvollständige Darstellung der Stellungnahme des Antragstellers zum Thema junge türkische Wählerinnen». Vosgerau sieht seine schriftlichen Darlegungen gegenüber Correctiv in dem fraglichen Artikel nicht hinreichend wiedergegeben. Durch eine «scherenschnittartige Darstellung» werde sein Ansehen beeinträchtigt.
Notfalls durch alle Instanzen
Correctiv schreibt im Artikel, Vosgerau wolle sich auf Nachfrage «an die Sache mit der Ausbürgerungsidee von Staatsbürgern in Sellners Vortrag» nicht mehr erinnern. Der Österreicher Martin Sellner, Leitfigur der in Deutschland vom Inlandgeheimdienst als rechtsextremistisch eingestuften Identitären Bewegung, hatte in Potsdam unter anderem über Remigration referiert. Vosgerau wurde jedoch, was der vorliegende Fragenkatalog von Correctiv durchaus belegt, «gerade nicht damit konfrontiert, dass eine Remigration anhand rassistischer Auswahlkriterien, wie Hautfarbe und Herkunft, diskutiert worden sei».
Ausserdem habe Correctiv Vosgeraus schriftliche Einlassung bewusst nicht zitiert, wonach eine Ausbürgerung deutscher Staatsbürger rechtlich gar nicht möglich sei. Schliesslich, so der Vorwurf, unterstelle Correctiv Vosgerau, dieser habe in Potsdam prinzipiell bezweifelt, junge Frauen türkischer Herkunft könnten sich bei Briefwahlen eine unabhängige Meinung bilden. Vosgerau besteht hingegen darauf, er habe nicht von der Meinungsbildung, sondern der Meinungsäusserung beim Ankreuzen des Wahlzettels gesprochen und damit keinen pauschalen Vorwurf erhoben.
Ob Vosgerau mit seinem Ansinnen Erfolg haben wird und die fraglichen Passagen aus dem Artikel gelöscht werden müssen, steht dahin. Correctiv erklärt gegenüber dieser Zeitung, man sehe derzeit keinen Anlass, die Berichterstattung zu korrigieren: «Generell sind wir überzeugt, dass wir gut aufgestellt sind.» Dem Verfahren sehe man gelassen entgegen, mit «juristischen Angriffen» habe man gerechnet, «auch mit eidesstattlichen Versicherungen. (. . .) Wir werden uns aber bis zum Schluss verteidigen.» Der Antrag und die Erklärungen waren bis Dienstagmorgen nicht bei Correctiv eingetroffen.
Ähnlich äussert sich gegenüber der NZZ Carsten Brennecke von der Kölner Kanzlei Höcker, die Vosgerau vertritt. Man sei bereit, «durch alle Instanzen zu gehen». Sollte das Landgericht einen für Vosgerau nachteiligen Beschluss treffen, werde beim Oberlandesgericht Beschwerde eingelegt.
Hermeneutische Differenzen
Weitaus fundamentaler sind die anderen Fragen, die der Rechtsstreit aufwirft – und da spielen die sieben eidesstattlichen Erklärungen eine wichtige Rolle. Im Antrag heisst es: «Auf dem besagten Treffen in Potsdam am 25. 11. 2023 wurde weder über eine Ausweisung von Staatsbürgern mit deutschem Pass gesprochen oder gar diese geplant, noch wurde besprochen, Menschen anhand rassistischer Kriterien, wie Hautfarbe oder Herkunft, auszuwählen und aus Deutschland auszuweisen.» Auch habe Sellner lediglich «davon gesprochen, dass vollziehbar ausreisepflichtige Asylbewerber sowie Asylbewerber, deren Aufenthaltsberechtigung erlischt, zeitnah ausgewiesen werden sollten». Ob dem wirklich so war, lässt sich, sofern und solange keine Tonaufzeichnungen vorliegen, weder beweisen noch widerlegen.
Mit den eidesstattlichen Erklärungen aber liegt eine gebündelte Antithese vor zur These von Correctiv, die da lautet, in Potsdam sei «ein ‹Masterplan› zur Ausweisung von deutschen Staatsbürgern» besprochen worden. Identisch formuliert heisst es hingegen in den sieben persönlich unterzeichneten Versicherungen einiger Teilnehmer: «Insgesamt ist also festzuhalten, dass sowohl der vortragende Sellner wie auch die anderen Teilnehmer des Treffens zu keinem Zeitpunkt eine Remigration von Menschen mit deutschem Pass gefordert oder geplant haben und erst recht keine Remigration von Menschen anhand oder aufgrund rassistischer Kriterien wie Hautfarbe oder Herkunft.»
Sellner habe «wieder und wieder betont und in den Vordergrund gestellt», dass sämtliche «Vorgänge (. . .) unter dem generalisierenden Oberbegriff ‹Remigration› seines Erachtens unbedingt legal und verfassungsgemäss erfolgen sollen und müssen». Der Anwalt von Correctiv wiederum führt bereits in der Zurückweisung der Abmahnung aus, wer sich einem Vortrag von Sellner aussetze, wisse, dass ihn «eine Diskussion über die Vertreibung von Menschen aus Deutschland aufgrund rassistischer Kriterien» erwarte.
Kern der kommenden Debatte aber könnte der Unterschied sein zwischen dem, was Correctiv tatsächlich schrieb, und dem Eindruck, der erzeugt wurde. Die Autoren des Textes formulieren, «im Grunde» seien «die Gedankenspiele an diesem Tag» alle auf einen Gedanken hinausgelaufen: «Menschen sollen aus Deutschland verdrängt werden können, wenn sie die vermeintlich falsche Hautfarbe oder Herkunft haben – und aus Sicht von Menschen wie Sellner nicht ausreichend ‹assimiliert› sind.» Damit steht im Zentrum des Artikels eine Deutung des recherchierten Materials, nicht die Recherche selbst. Es wird spannend sein zu beobachten, ob die Hamburger Richter sich auch dieser hermeneutischen Differenz widmen werden.