Sein Biennale-Pavillon «Totes Haus u r» hat Gregor Schneider berühmt gemacht. Für die Münchner Kammerspiele stellt er die Kranken und die Sterbenden ins Zentrum.
Trotz steigender Lebenserwartung führt am Sterben kein Weg vorbei. Heute aber wird der Tod verdrängt wie kaum je zuvor: Auf der einen Seite wird das Hinscheiden in abgeschirmte Bezirke verbannt, auf der anderen erfährt der Traum von der Unsterblichkeit eine (pseudo-)wissenschaftliche Fortschreibung durch die Technik der «Kryokonservierung»: Nach dem klinischen Exitus wird der Körper bei extrem tiefen Temperaturen eingefroren, um ihn, so die Hoffnung, eines Tages, sobald die Medizin dazu imstande ist, ins ewige Leben zurückzuholen.
Anders als die Kunst des Mittelalters, die dem Finale des Daseins zum Beispiel in Gestalt der Totentanz-Darstellungen eine umfassende allegorische Ausdeutung gegeben hat, geht die zeitgenössische Kunst dem Thema meist aus dem Weg. Das gilt allerdings nicht für alle Künstler: Sophie Calle und Bill Viola etwa haben den Sterbeprozess eines Elternteils in ergreifenden Videos festgehalten.
Einer, der seit mehr als zwei Jahrzehnten gegen die Todesvergessenheit aufbegehrt, ist Gregor Schneider. Mit seiner Biennale-Installation «Totes Haus u r» gewann er 2001 den Goldenen Löwen in Venedig.
Damals präsentierte er im deutschen Pavillon sein leerstehendes Elternhaus in Mönchengladbach-Rheydt, das der 1969 geborene Künstler nach und nach in eine ebenso verschachtelte wie verstörende Raumskulptur verwandelt hatte. Das morbide Ensemble, das dem Biennale-Publikum Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte, machte Schneider schlagartig berühmt.
Seitdem blickt der Künstler, der seit 2016 die Klasse für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf leitet, dem Tod beharrlich ins Auge: Schneider hat sich als «Toter Mann» in einen Museumsraum gelegt, den Kryo-Container «Phoenix» und einen abstrakten «Kreuzweg» kreiert, vor dem Museum Abteiberg in Mönchengladbach einen schwarzen Tunnel mit dem Titel «End» aufgestellt und im Staatstheater Darmstadt einen leeren «Sterberaum» auf die Bühne gebracht. «Der Tod», sagt Schneider, «ist meine unverfügbare Erfahrung. Ich kann mir meinen Tod nicht vorstellen oder ihn fühlen. Diese Unvorstellbarkeit hat mich von jeher angezogen. Es ist wie eine Black Box.»
Seine radikalste Idee besteht darin, im Museum einen Menschen auszustellen, der «eines natürlichen Todes stirbt oder gerade eines natürlichen Todes gestorben ist». Wegen ethischer Bedenken blieb ihm die Verwirklichung bisher verwehrt. Vorwürfe, ihm gehe es vorrangig um Provokation, er missbrauche die Freiheit der Kunst, weist Gregor Schneider zurück: «Es ist mein Ziel, die Schönheit des Todes zu zeigen.»
Bewusst sterben
Diesem Ziel dient auch das neue Projekt für die Münchner Kammerspiele. Münchner, die alt oder schwer krank sind, wurden eingeladen, an dem Kunstprojekt «Ars Moriendi» mitzuwirken.
In einer geschlossenen Kabine machen 120 Kameras gleichzeitig ein Bild des Teilnehmers. Aus den Einzelfotos entsteht danach ein dreidimensionales Gesamtbild der Persönlichkeit. Schliesslich führt Schneider mit der Person ein Gespräch – über das Leben, über den Tod, über die Beweggründe, bei der Aktion mitzumachen.
«Durchgehend war die Reaktion der Personen von Dankbarkeit für die Zeit und Aufmerksamkeit geprägt, die wir ihnen geben konnten», so resümiert der Künstler seinen bisherigen Austausch mit den rund 25 Personen, die sich gemeldet haben – mit zirka 50 rechnet er am Ende. «Es sind Menschen, die trotz ihren Erkrankungen oder ihrem Alter ganz bewusst leben. Sie befürworten das Vorhaben als sinnstiftend. Es ist hingegen viel schwieriger, Menschen zu finden, die nichts von dem Aufruf erfahren oder nicht so aktiv sind. Menschen, die Krankheit und Alter in Einsamkeit erleben, sind schwerer zu erreichen, zum Beispiel Obdachlose und Randgruppen. Aber mein Angebot ist nicht nur für das typische Theaterpublikum gedacht.»
Der Porträt-Scan und ein kurzes Tonprotokoll sind vom 19. Oktober an über eine App abrufbar – allerdings nicht überall, sondern nur an einem bestimmten Ort im Münchner Stadtraum: einem Ort nämlich, der in der Biografie des Teilnehmers eine herausragende Rolle spielt. Auf diese Weise wird das Gedenken im öffentlichen Raum individuell verankert.
Fünf Jahre lang, so der Plan, kann man mit der App eine Art letzte Reise durch München unternehmen. Und sich beispielsweise fragen, ob die Person, der wir digital am Marienplatz, vor der Frauenkirche oder am Viktualienmarkt begegnen, noch unter uns ist oder ob wir bereits mit ihrem Vermächtnis konfrontiert sind. Gregor Schneider: «Es sind digitale Figuren zwischen Lebenden und Untoten, die den Raum zwischen Leben und Tod erweitern.»
Aus Materiellem und Immateriellem formt seine «Ars Moriendi» eine existenzielle Kunsterfahrung, die unter die Haut geht. Und die das geflügelte Wort «Jeder stirbt für sich allein» ins Gegenteil verkehren will. Schneider ist überzeugt: «Wir können viel von Sterbenden lernen. Das Sterben macht uns alle gleich.»
Wir treffen den Künstler in seinem Studio, das sich in der Nähe des Rheydter Hauptbahnhofs befindet. Zieht es die meisten Künstler der Region nach Berlin, allemal aber nach Düsseldorf oder Köln, so hält Schneider seiner Heimatstadt die Treue. Obwohl Rheydt kaum eine der Eigenschaften besitzt, deretwegen eine Stadt als attraktiv angesehen wird, fühlt er sich hier verwurzelt. Gleich neben seinem «Haus u r» an der Unterheydener Strasse befindet sich das Familienunternehmen Anton Schneider Söhne – Gregor Schneiders Brüder Stefan und Thomas sind Geschäftsführer des Herstellers von Blei-Produkten.
«Haus Goebbels»
Lagerraum ist hier leichter und billiger zu beschaffen als in Grossstädten. Weil Schneider seine Künstlerräume mit logistischer Akkuratesse einlagert, um sie bei Anfragen von Museen gleichsam schlüsselfertig liefern zu können, braucht er viel Platz. Bei einer Tour durch die «Schneider World», wie er sein Reich in Rheydt nennt, steuern wir gleich mehrere turnhallengrosse Magazine an. Dort werden die Relikte vergangener Ausstellungen und Aktionen aufbewahrt.
Gleich um die Ecke von «Haus u r» liegt eine weitere Station der Tour, nicht sehenswürdig, aber denkwürdig: In dem dreigeschossigen Reihenhaus an der Odenkirchener Strasse 202 wurde Joseph Goebbels am 29. Oktober 1897 geboren. Um den «Schandfleck», nach dem Krieg ein unauffälliges Wohnhaus, hatte sich niemand gekümmert, bis Schneider 2008 durch Recherchen im Stadtarchiv die brisante Provenienz ans Tageslicht förderte.
Als das Haus 2013 auf einem Immobilienportal im Internet zum Verkauf angeboten wurde, schlug er zu. Sein erster Impuls, das Gebäude abreissen zu lassen, damit es nicht von Neonazis als Gedenkstätte vereinnahmt wird, liess sich nicht realisieren, weil dann auch das Nachbarhaus eingestürzt wäre. Deshalb entschied sich Schneider für ein Verfahren, das an sein im Inneren fundamental verfremdetes «Haus u r» erinnert, aber noch radikaler ist: Schichtweise wurde das «Haus Goebbels» entkernt. Eigenhändig entfernte der Künstler die Decken, riss die Böden heraus, liess kaum einen Stein auf dem anderen. Am Ende transportierte er den Schutt nach Warschau und parkierte den Lkw vor dem Eingang der Zachęta-Nationalgalerie für Kunst.
Der potemkinschen Fassade an der Odenkirchener Strasse sieht man nicht an, dass dahinter die Leere klafft. Die Architektur-Skulptur als symbolischer Akt der Dämonenaustreibung. «Neues Leben blüht aus den Ruinen», heisst es hoffnungsvoll bei Schiller. Mit seinem Goebbels-Exorzismus will der Künstler das Gegenteil bewirken. Anders als bei seinem tröstlichen «Ars Moriendi»-Projekt verkörpert «Haus Goebbels» die dunkle Seite von Gregor Schneiders Todesbotschaft.
«Ars Moriendi. Sterben im öffentlichen Raum», Projekt von Gregor Schneider in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen, Start am 19. Oktober.