In «Zmittag», der kulinarischen Interview-Serie der NZZ, spricht der SPD-Generalsekretär über Konservative, die glauben, sie hätten Oberwasser, die leise Macht seines Amtes und sein neues Leben ohne Zigaretten und fast ohne Alkohol.
Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie war einmal eine Geschichte von trinkfesten Männern mit Macht. Von den vier Kanzlern der Partei war die Hälfte stark am Glas, wie man früher gesagt hat. Willy Brandt nannten sie auch «Willy Weinbrandt», und Gerhard Schröder drohte bekanntlich sogar einmal mit Streik, wenn er nicht umgehend mit Bier versorgt werde. Lange her. Heute verrät seine fünfte Frau, So-yeon Schröder-Kim, bei Instagram, wie sie seinen Apfel-Möhren-Saft zubereitet («Möhren vorher gedünstet!»).
Der heutige Generalsekretär Kevin Kühnert steht ebenfalls für diese neue gesundheitsbewusste SPD. Erst habe er den Zigaretten abgeschworen, und nun verzichte er auch weitgehend auf Alkohol, sagt der ehemalige Kettenraucher auf die Frage, was man denn zu trinken bestellen wolle. Wir sind zum Mittagessen im Berliner Lokal «Robbengatter» im Stadtteil Schöneberg verabredet, um über die Lage zu sprechen: der Partei, der Regierung, des Landes. Es sieht überall eher unerfreulich aus, und eine Flasche Wein hätte vielleicht geholfen.
«Wollen wir bestellen?», fragt die Kellnerin. Wir wollen, sind aber noch nicht so weit.
Warum trinkt Kühnert fast keinen Alkohol mehr? Man hört, er habe als junger Mann – er ist inzwischen 34 Jahre alt – oft und ausdauernd gefeiert. Er lächelt. Bei seiner Arbeitsbelastung und den vielen Reisen brauche er so viel guten Schlaf, wie er kriegen könne, sagt er.
Kein Posten für Zartbesaitete
Im Oktober 2021 zog der Berliner erstmals als Abgeordneter in den Bundestag ein, zwei Monate später übernahm er noch das Amt des Generalsekretärs, was in der deutschen Politik kein Posten für Zartbesaitete ist, zumal dann, wenn die Partei den Regierungschef stellt und der auch noch Olaf Scholz heisst. Kühnert muss den unbeliebten Kanzler nach innen verteidigen und die jüngst katastrophalen Landtagswahlergebnisse der SPD nach aussen in Interviews und Talkshows erklären, also schönreden.
Die Kellnerin kommt zum zweiten Mal. Wir greifen pflichtschuldig zur Karte.
Der Politiker hatte beim Restaurant die freie Wahl. Seine Entscheidung für diese, wie er sagt, «Institution» im eigenen Wahlkreis soll offenkundig Heimatverbundenheit und Bodenständigkeit ausdrücken. Das Lokal ist gross, rustikal und will als «Restaurantkneipe – Café» irgendwie alle und jeden ansprechen – genau wie die SPD, die sich bis heute als Volkspartei begreift. Beide sind nicht mehr die Jüngsten. Die SPD hat gerade erst ihr 160-jähriges Bestehen gefeiert, und das «Robbengatter» wird dieses Jahr 50 Jahre alt, was auf dem umkämpften Gastromarkt der Hauptstadt ein stolzes Alter ist.
Nur ein Teil der Dekoration wäre in Kühnerts Partei längst verboten worden. «Wer Bier nicht liebt und Weib und Knödel, der bleibt sein Leben lang ein Blödel», liest man auf einem Poster auf der Herrentoilette, dazu eine Zeichnung einer drallen Frau, die sich von hinten betatschen lässt.
Im «Robbengatter» sei er schon als Kommunalpolitiker eingekehrt, sagt Kühnert. In den umliegenden Strassen habe er im Herbst 2021 Haustürwahlkampf gemacht und sich auf die «Potenzialgebiete» konzentriert: potenziell hohe Wahlbeteiligung, gepaart mit einem potenziell hohen SPD-Ergebnis.
Das beste Ergebnis, noch vor den Grünen
Der Politiker ist ein Fan datengetriebener Wahlkämpfe. Vor Verhältnissen wie in den USA, wo die Parteien sogar wüssten, wie die Haustiere der Leute hiessen, müsse sich in Deutschland aber niemand fürchten: «Da steht der deutsche Datenschutz aus guten Gründen dagegen, dass wir den Dackel Johnny katalogisieren.» Die Strategie ging auch so auf. Kühnert erzielte vor den Grünen das beste Erststimmenergebnis und zog per Direktmandat ins nationale Parlament ein.
Die Kellnerin kommt zum dritten Mal. Sie wolle nicht, dass wir verhungern würden, sagt sie und schaut dabei den Politiker an. Wir bestellen jeweils eine Vorspeise und einen Hauptgang und noch kein Dessert. Dafür gibt es Lob. Die Portionen seien üppig, sagt die Kellnerin und schaut wieder zu Kühnert. Wie der zierliche Sozialdemokrat so dasitzt, ganz in Schwarz gekleidet auf dem ebenso schwarzen Sitzpolster, könnte er auch als Sänger einer Dark-Wave-Band durchgehen. Nur in Fit.
Wenn er reise, achte er heute darauf, dass es einen Sportraum gebe, sagt er. Und in Berlin gehe er ins EMS-Studio. Das Kürzel steht für Elektrische Muskelstimulation. Die, nun ja, Sportler werden verkabelt und ihre Muskeln über Elektroden mit Reizstrom zur Kontraktion gebracht. Der Reporter ist skeptisch, aber Kühnert ist begeistert: Effizient sei das und intensiver als herkömmliches Training.
«Ich lasse mich nicht so gern anbrüllen»
Hat er einmal Crossfit ausprobiert, das schweisstreibende Kraft- und Konditionstraining, auf das der hünenhafte SPD-Chef Lars Klingbeil schwört? Kühnert verzieht das Gesicht: «Ich lasse mich nicht so gern anbrüllen.» Da kommt der erste Gang.
Der Generalsekretär hat sich für eine Tomatensuppe mit Sahnehaube entschieden, die er nach zwei Löffeln lobt: «Sehr tomatig . . . sogar mit Kernen drin, also nicht aus der Tüte . . . sehr ordentlich.» Letztgenanntes kann man von der Bruschetta des Reporters leider nicht sagen. Das Brot ist kaum kross und nur lauwarm, und den im Glas statt als Aufstrich servierten Tomatenwürfeln mit Knoblauch und Basilikum fehlt die Würze. Apropos: Wie ist eigentlich Kühnerts Verhältnis zum Kanzler?
Als der Generalsekretär noch Juso-Vorsitzender und Scholz Finanzminister unter Angela Merkel war, waren die Männer keine Freunde. Unvergessen ist Kühnerts Schadenfreude über Scholz’ Niederlage im Kampf um den SPD-Vorsitz im Jahr 2020, die für die ARD-Reihe «Kevin Kühnert und die SPD» von der Kamera festgehalten wurde. Der damalige Minister wiederum verhöhnte den Juso-Chef. Als er selbst die Jugendorganisation geleitet habe, sei Kühnert noch gar nicht auf der Welt gewesen. Ach, der kleine Kevin: Das war die Botschaft.
Allerdings wusste und weiss Scholz, dass Kühnert ein herausragender Redner und gewiefter Stratege ist. Als Juso-Vorsitzender hat er die Mutterpartei regelrecht vor sich hergetrieben und die grosse Koalition mit der Union bei jeder Gelegenheit schlechtgeredet. Scholz kann insofern froh sein, als genau dieser Genosse seine Kanzlerschaft nach innen und aussen verteidigt. An anderer Stelle hätte er ihm sonst womöglich Kummer bereitet.
Keine «Lobpreisungen für den lieben Führer»
Wenn der Jüngere heute über den Älteren spricht, lobt er ihn, natürlich. Aber er klingt dabei nicht wie einer, dessen Herz brennt.
«Die Leute wussten im September 2021 ziemlich präzise, dass sie mit Olaf Scholz keinen Zirkusdirektor mit Unterhaltungsfaktor wählen, sondern die weniger glamouröse Option ‹Verlässlichkeit und Umsicht›», sagt Kühnert. Dass Deutschlands umfangreiche militärische Unterstützung für die Ukraine weiterhin den Rückhalt einer grossen Mehrheit im Land geniesse, habe «ganz wesentlich mit diesem vorsichtigen wie umsichtigen Wesenszug von Scholz zu tun».
Was der Generalsekretär nicht sagt: Der Rückhalt schrumpft. Das gilt sowohl für die Bereitschaft der Deutschen, weitere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen, als auch für die Zustimmung zur Lieferung weiterer schwerer Waffen an das Land.
Er müsse nicht alles richtig finden, was der Kanzler tue, fährt Kühnert fort. «Wenn das so wäre, könnten wir eine KI als Generalsekretär einsetzen, die jeden Tag nordkoreanisches Fernsehen macht und Lobpreisungen für den lieben Führer ausruft.» Darum gehe es nicht, sondern um Solidarität. Die wiederum bedeute nicht, dass man alles schönrede. «Aber wenn ich etwas zu kritisieren habe, dann mache ich das im persönlichen Gespräch und nicht in einer Talkshow.»
Es habe in der Natur der Sache gelegen, dass er als Juso-Chef häufiger den Weg über die Öffentlichkeit gewählt habe, sagt Kühnert. Das sei das Instrument gewesen, das ihm zur Verfügung gestanden habe. «Heute habe ich andere Instrumente.»
Nawalny ist tot
Bevor wir über Kühnerts Instrumentenkasten sprechen können, unterbricht der SPD-Sprecher, der neben dem Reporter sitzt, das Gespräch und reicht seinem Chef ein Handy. «Nawalny ist tot», sagt er. Kühnert verzieht keine Miene. Alle am Tisch holen die Handys hervor und starren auf ihre Bildschirme. Nach einer Weile schaut der Generalsekretär auf. Dass der Tod des Gefangenen Alexei Nawalny, des russischen Staatsfeinds Nummer eins, ausgerechnet jetzt (am Tag des Mittagessens hatte gerade die Münchner Sicherheitskonferenz begonnen, Anm. d. Red.) bekanntwerde, sei sicher kein Zufall: «Das sollte da reinplatzen.»
Es folgt ein Gespräch über die internationale Unordnung: den Krieg in der Ukraine, den Despoten in Moskau, die Präsidentschaftswahl in den USA im November, die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit Donald Trumps. Unabhängig vom Kriegsverlauf und vom destruktiven Potenzial Trumps müssten sich die 27 Mitglieder der Europäischen Union darauf gefasst machen, ihre Probleme zumindest für eine ganze Weile allein zu bewältigen, sagt Kühnert. Und weiter: «Der vulgärpazifistische Ansatz funktioniert nicht. Nach dem Motto: Wenn sie dir auf die linke Backe hauen, dann halte ihnen noch die rechte hinten.»
Dass der Sozialdemokrat auch heute noch sagt, dass er selbst nie eine Waffe in die Hand nähme, mag der eine oder andere kritisieren. Aber es ist immerhin gradlinig. Es gibt deutsche Politiker, die einst den Wehrdienst verweigert haben und nun verkünden, dass sie sich im Angesicht des Krieges anders entschieden hätten. Für solche Bekanntmachungen wurde das Wort Gratismut erfunden.
Die Kellnerin ist wieder da, und die internationalen Krisen werden von einer anderen Krise abgelöst.
Schade um das tote Tier
Kühnert hat sich im Hauptgang für die «Spätzle Robbengatter» mit Schweinefiletstreifen, Champignons, Zwiebeln und einer Pfeffersauce entschieden. Die nach ein paar Bissen gestellte Frage, ob er zufrieden sei, kann der Politiker hier, in dieser «Institution» im eigenen Wahlkreis, eigentlich nur ehrlich beantworten, falls er es auch wirklich ist. Falls nicht, muss er das tun, was er nach Landtagswahlen inzwischen mit grosser Routine tut, wenn der rote Balken mit dem SPD-Ergebnis wieder deutlich kleiner ausgefallen ist als bei der vorherigen Wahl: Er muss bluffen. Kühnerts salomonisches Spätzle-Urteil: «Solide.»
Der Reporter muss nicht diplomatisch sein. Sein «hausgemachtes Rindertatar» sieht aus wie ein zu gross geratener Kinderteller und schmeckt wie ein bei Zimmertemperatur vergessenes Metthäufchen. Das Fleisch, das bei diesem Gericht hochwertig, frisch und sehr fein zerkleinert sein muss – am besten mit einem scharfen Messer, nicht mit dem Fleischwolf –, ist grob und schmeckt auch so. Sämtliche Gewürze und Zutaten hat die Küche auf Salatblättern drumherum drapiert, und zwar einzeln: auf einem Blatt die Zwiebeln, auf dem nächsten den Pfeffer, auf dem dritten die Kapern und so weiter. Es wäre lustig, wenn es nicht so schade wäre um das tote Tier.
Zum Glück ist das Gespräch lebendig. Kühnert kann Politik klug analysieren, und er verzichtet beim Sprechen auf viele Phrasen seines Berufsstandes. Aber nicht auf alle: Kann die zerstrittene Koalition aus SPD, Grünen und FDP das Ruder in den knapp eineinhalb Jahren bis zur nächsten Wahl noch herumreissen, und, wenn ja, wie? Antwort: indem sie «Krisenkompetenz» demonstriere.
Debatten wie in einem überhitzten Backofen
Interessant ist Kühnerts Blick auf die Oppositionsparteien CDU und CSU, die in den Umfragen vorne liegen. «Die Konservativen denken, dass sie die Deutungshoheit hätten», sagt er. Er glaube, so einfach sei es nicht. Der gesellschaftliche Konsens ergebe sich momentan nicht aus einem politischen Standpunkt, sondern aus der Feststellung, dass die Stimmung schlecht sei. Das Klima der Debatten erinnere an einen überhitzten Backofen: «Ein Gericht, das ich da reinschiebe, kann noch so schön sein. Es verbrennt, weil die Temperatur zu hoch ist. Wenn die ‹Ampel› morgen weg und Friedrich Merz Kanzler wäre, hätte er in ein paar Monaten die gleichen Probleme.» Für alle Demokraten gelte: Die Temperatur müsse wieder runter.
Bleibt die Frage nach den Instrumenten des Generalsekretärs, die von der Nachricht über Nawalnys Tod überschattet wurde. Früher hatte Kühnert sein rhetorisches Talent. Und heute? «Das direkte Gespräch. Und so unspektakulär das auch klingt: die Tagesordnung.» Er sei Geschäftsführer seiner Partei und könne Ablauf und Inhalte von Sitzungen massgeblich bestimmen. Wenn er finde, etwas müsse besprochen werden, setze er es auf die Agenda. Wenn er eine Position stark machen wolle, lade er eine entsprechende Person für einen Vortrag ein. Und wenn er Druck machen wolle, schicke er eine E-Mail an alle Parteimitglieder: «Wollt ihr, dass die Schuldenbremse reformiert wird?» Dann antworteten 90 Prozent mit Ja, und er könne das verwenden.
Fehlt ihm die alte Rolle manchmal, die des Ober-Juso, der seine Partei antreibt und in Wallung versetzt, etwa indem er die Kollektivierung von Konzernen wie BMW fordert? Nein, sagt Kühnert. Diese Zeit habe ihn geprägt, und er sei der gleiche Mensch geblieben. Aber jetzt sei eine andere Zeit, und er habe eine andere Aufgabe. Natürlich habe er damals besser an Visionen arbeiten können, als es sein Terminkalender heute zulasse, etwa beim Wandern in den Bergen. «Aber man musste als Juso auch sehr breitbeinig auftreten, um sich Gehör zu verschaffen.» Das sei heute einfacher, und er sei nicht traurig darüber.
Olaf Scholz, Friedenskanzler?
Nach zwei Stunden ist das Treffen beendet. Ein paar Tage später, das Tatar des Reporters ist längst verdaut, aber noch lange nicht vergessen, sorgt der Kanzler für Aufsehen. In einem Video verspricht er, keine Soldaten in die Ukraine zu schicken. Das hat allerdings keiner verlangt, und es wäre auch nicht seine Entscheidung; die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Was ist das: der Beginn des Wahlkampfs? Der Verdacht liegt nahe. Nachfrage an Kühnert: Wird die SPD jetzt bis zur Bundestagswahl die Rolle der «Friedenspartei» einnehmen?
«Wer könnte gegen das Streben nach Frieden sein?», antwortet Kühnert beinahe lyrisch. Die SPD sei eine Friedenspartei, ja. Sie unterscheide sich allerdings von Sahra Wagenknecht und anderen, indem sie eine unbedingte Verbindung zwischen Frieden und Freiheit sehe. «Frieden ohne Freiheit ist Unterjochung, darin kann ich nichts Fortschrittliches erkennen.»
Mit anderen Worten: Der Wahlkampf ist eröffnet.
Über das Restaurant
Das Restaurant «Robbengatter», 1974 eröffnet, verdankt seinen Namen nach eigenen Angaben einer launigen Bemerkung. Während einer Pause bei den Bauarbeiten des Lokals hätten die Männer mit Koteletten und Schnauzbärten im Kreis gesessen, und einer habe gerufen: «Ihr seht aus wie Robben in einem Gatter!» Die Küche versucht sich an einer internationalen Mischung, die von britischer Mulligatawny-Suppe über Kalbsleber Bozener Art bis hin zu Schweizer Wurstsalat reicht.
«Robbengatter» Restaurantkneipe – Café, Grunewaldstrasse 55, Berlin
Telefon +49 30 / 85 35 255. Sonntags und montags von 9 bis 24 Uhr (warme Küche bis 23 Uhr), dienstags bis samstags von 9 bis 1 Uhr (warme Küche bis Mitternacht).