Der langjährige Politbürochef hat die Hamas geprägt wie kein Zweiter. Doch jetzt steht die Bewegung in Gaza mit dem Rücken zur Wand. Hat sie noch eine Zukunft? Ein Besuch beim Exilführer in Katar.
Die Hamas kämpft in Gaza ums nackte Überleben. Sechs Monate nachdem sie in Israel ein Massaker angerichtet hat, sind Tausende ihrer Leute im Krieg gegen Israels Armee gefallen. Ihre lokalen Kader verstecken sich in Tunneln, international ist sie isoliert, und ihre einstige Hochburg ist ein Trümmerfeld. Doch Khaled Mashal – einer ihrer wichtigsten Führer im Exil – will darin keine Niederlage erkennen.
Natürlich seien die Machtverhältnisse unausgeglichen, sagt er in seiner Villa im fernen Katar. «Aber die Hamas ist widerstandsfähig. Und der Widerstand macht verschiedene Phasen durch. Es ist ein natürliches Auf und Ab.» Zudem wende sich die öffentliche Meinung in der Welt angesichts der Zehntausende von Toten in Gaza immer mehr gegen Israel. «Das zeigt, dass die Welt erkennt, dass wir im Recht sind.»
Mashal war von 1996 bis 2017 Chef des Politbüros der Hamas. Zwar hat er das Amt inzwischen an seinen Nachfolger Ismail Haniya abgegeben. Dennoch gilt der 67-Jährige bis heute als graue Eminenz der Hamas – und als jener Führer, der sie noch am ehesten vor dem Untergang retten kann. Wer verstehen wolle, welche Optionen die Hamas habe – so hört man aus ihrem Umfeld –, müsse daher mit Mashal sprechen.
«Wichtige Runde im Kampf gegen die Besetzung»
Doch Mashal macht sich rar. Seit dem 7. Oktober hat er so gut wie keine Journalisten getroffen, westliche schon gar nicht. Nach Wochen des Wartens kommt schliesslich doch ein exklusives Treffen zustande. In einem Geländewagen geht es durch die nächtlichen Strassen von Doha, der Hauptstadt von Katar. Dann öffnet sich ein schweres Metalltor vor einer schlichten Villa. Sicherheitsleute nehmen den Besuchern die Handys ab. Mashal komme gleich, sagen sie. «Er betet noch.»
Ein paar Minuten später empfängt der Hamas-Führer in einem hell erleuchteten Raum voller Polstermöbel. Er trägt einen Nadelstreifenanzug, sein Bart glänzt silbern. Er gibt sich sowohl staatsmännisch als auch hart, lässt Widerrede zu, ist aber auch bestimmt. Eines stellt er sofort klar: Der Terrorangriff vom 7. Oktober, der nicht nur in Israel, sondern auch in Gaza so viel Tod und Zerstörung verursacht hat, war aus seiner Sicht absolut gerechtfertigt.
«Der 7. Oktober ist eine wichtige Runde im Kampf gegen die Besetzung», sagt er – als habe es sich bei dem Überfall auf die Armeestützpunkte und Kibbuzim im Süden Israels um eine spontane Volkserhebung gehandelt und nicht um eine von der Hamas im Geheimen geplante Kommandoaktion. «Er hat gezeigt, dass das palästinensische Volk die Besetzung nicht weiter hinnehmen will und entschlossen ist, sie abzuschütteln.»
Strippenzieher und Chefdiplomat
Dass die Hamas in Israel Zivilisten getötet hat, bestreitet er – allen Beweisen zum Trotz. Und dass infolge des Angriffs nun auch Gaza in Trümmern liegt und dort Zehntausende ihr Leben verloren haben, nimmt er in Kauf. Zerstörung treffe alle Völker, die unter Besetzung litten. «Das war in Vietnam, Afghanistan und im Irak genauso. Aber es kann den Freiheitswillen unseres Volkes nicht brechen.»
Mashal spricht meist ruhig und gelassen und lächelt immer wieder. Dabei ist es nicht nur Gaza, das jetzt in einem Feuersturm untergeht, sondern auch sein eigenes Lebenswerk. Denn der Physiker hat die Hamas Ende der achtziger Jahren nicht nur mitgegründet. Er hat sie als Chef des Politbüros erst zu dem gemacht, was sie heute ist.
Unter seiner Führung gewann die islamistische Bewegung die Parlamentswahl in den palästinensischen Gebieten 2006, ein Jahr später riss sie die Macht in Gaza an sich und wurde zu einem politischen Akteur, mit dem sogar Israel indirekt verhandelte. 2017 hinterliess Mashal der Hamas eine neue Charta, in der sie einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 akzeptierte – zu einer Anerkennung Israels konnte sie sich allerdings nicht durchringen.
Mashal war Strippenzieher und Chefdiplomat zugleich. Er war dermassen einflussreich, dass ihn die Israeli unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu 1997 sogar umbringen wollten. Doch der Anschlag, bei dem Mossad-Agenten mitten in der jordanischen Hauptstadt Amman Gift in sein Ohr spritzten, scheiterte und wurde zu einer Blamage für den israelischen Geheimdienst. Mashal hingegen machte er nur noch stärker.
Wusste Mashal von dem Angriff?
Bis heute umgibt ihn eine Aura der Macht. Beim Treffen in Doha erzählt er immer wieder von seinen Begegnungen mit ausländischen Politikern, unter ihnen der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter. Neben sich hat er ein altes Tastentelefon stehen, wie ein Parteichef aus dem Ostblock. Damit bestellt er bei einem Assistenten Tee, Kaffee und palästinensisches Gebäck.
Mashal muss gewusst haben, welche Folgen ein Anschlag wie am 7. Oktober für die Hamas haben würde. Hat er ihn trotzdem genehmigt? Oder wusste er gar nicht Bescheid? Zum Zeitpunkt des Angriffs war er in Istanbul. Ein Video zeigt ihn, wie er dort mit weiteren Hamas-Führern in einem Büro die Live-Berichterstattung des arabischen Nachrichtensenders al-Jazeera verfolgt und spontan zum Gebet niederkniet.
Äussern will sich Mashal dazu nicht. «In der Führung der Bewegung haben wir spezifische Mechanismen für alle Entscheidungen, auch für die militärischen», sagt er nur. «Wie diese Entscheidungen getroffen werden, ist Sache der Bewegung und der Führung allein.»
Die Kassam-Brigaden wurden immer mächtiger
Wer in der Hamas-Führung wirklich das Sagen hat und wie sie genau tickt, lässt sich nur schwer abschätzen. Zwar gibt es ein zentrales Politbüro, einen Shura-Rat und weitere Gremien, deren Mitglieder bekannt sind und in internen Wahlen bestimmt werden. Nach aussen hin geben sich die Hamas-Führer stets einig und geschlossen. Hinter den Kulissen ringen jedoch unterschiedliche Strömungen um Einfluss.
Jahrelang gaben die als relativ pragmatisch geltenden Exilführer um Mashal den Ton an. Seit 2017 haben sich die Gewichte allerdings verschoben, und neue, weitaus radikalere Mitglieder haben nach der Macht gegriffen. Sie stammen meist aus Gaza, der eigentlichen Hochburg der Hamas. Dort stellten sie bis zum Krieg die Regierung und hatten ihren bewaffneten Flügel, die Kassam-Brigaden, stationiert.
Mashals Nachfolger, Ismail Haniya, gehört dazu – aber auch Yahya Sinwar, der derzeitige Chef der Hamas in Gaza. Sinwar gilt als der Hauptverantwortliche für den Angriff vom 7. Oktober. Er stammt aus dem Umfeld der Kassam-Brigaden und hat in den letzten Jahren enorm an Einfluss gewonnen. Mashal versichert jedoch, alle Flügel arbeiteten harmonisch zusammen. «Innerhalb der Hamas haben langjährige politische Führer ebenso ihren Einfluss wie der militärische Flügel.»
Alle wichtigen Entscheidungen, so sagt er, würden stets im Rahmen der Gesamtorganisation gefällt. Dennoch hält sich das hartnäckige Gerücht, Sinwar habe am 7. Oktober auf eigene Faust gehandelt. Zuzutrauen wäre es ihm. Denn Sinwar, der in einem Flüchtlingslager in Khan Yunis aufwuchs und lange Jahre in israelischen Gefängnissen sass, gilt als brutal und rücksichtslos. So soll er früher eigenhändig mutmassliche Kollaborateure hingerichtet haben.
Mashal ist das komplette Gegenteil Sinwars. Der im Westjordanland geborene Sohn einer Flüchtlingsfamilie entstammt dem frommen Bildungsbürgertum, hat an der Universität Kuwait studiert und lebt seit Jahrzehnten im Ausland. Zwar befürwortet auch Mashal Gewalt und hat in seiner Zeit als Politbürochef Selbstmordattentate gebilligt. Er ist jedoch eher in den Korridoren der Macht zu Hause als auf dem Schlachtfeld. In Gaza war er nur ein einziges Mal, 2012, während eines kurzen Besuchs in seiner Funktion als Politbürochef.
Zweifel an Sinwars Fähigkeiten
Gerüchte besagen, Mashal und Sinwar könnten sich nicht ausstehen. Im Gespräch will Mashal darauf nicht eingehen. Bei entsprechenden Nachfragen lächelt er bloss. Es sei doch ganz normal, dass ein unterschiedliches Umfeld zu unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven führe, sagt er. In jeder Bewegung gebe es Diversität. «Aber die Hamas zeichnet sich durch ihre Stärke und ihren inneren Zusammenhalt aus. Zudem funktioniert sie in ihrer internen Entscheidungsfindung demokratisch.»
Andere Hamas-Leute äussern hinter vorgehaltener Hand jedoch längst Zweifel an Sinwars strategischen Fähigkeiten. Die Exilführung in Katar hatte schon 2021 versucht, Sinwar bei der Neubesetzung des Gaza-Politbüros von der Macht zu verdrängen – allerdings vergeblich. Inzwischen ist es für einen solchen Kurswechsel wohl zu spät. Stattdessen muss sich die Hamas, wenn sie denn überhaupt noch eine Zukunft haben will, im Exil neu aufstellen.
Dabei führt offenbar kein Weg an Mashal vorbei. Im Gegensatz zu anderen Hamas-Chefs wirkt er weltgewandt. Gleichzeitig hat er offenbar auch eine eitle Seite. Als ein Fotograf während des Interviews Bilder macht, achtet er etwa ganz genau darauf, welche Schale vor ihm auf dem Tisch steht. Längst verbreiten seine Anhänger das Gerücht, er könnte demnächst wieder antreten, um die Führung zu übernehmen – spätestens 2025, wenn Haniyas Mandat ausläuft.
Die Chance dazu hätte Mashal. Denn Haniya hat sich möglicherweise verkalkuliert. Der Noch-Chef gilt als treibende Kraft hinter der engen Allianz mit Iran, welche die Hamas in den letzten Jahren eingegangen ist. Doch das Bündnis hat sich nur begrenzt ausgezahlt. Zwar hat der proiranische Hizbullah am 8. Oktober zur Unterstützung der Hamas eine zweite Front im Norden Israels eröffnet. Sonst belassen es die Verbündeten aber mehrheitlich bei Lippenbekenntnissen.
Die Verhandlungen gehen kaum voran
«Wir zwingen niemanden, uns zu helfen», sagt Mashal. Dennoch rufe man die arabische und islamische Welt und auch den Rest der Welt zur Unterstützung auf. Dabei klingt er weder verärgert noch überrascht. Möglicherweise hat er geahnt, was kommen würde. Tatsächlich war Mashal nie ein glühender Anhänger Teherans. Während des Syrien-Kriegs hat er sich gegen das Asad-Regime und dessen iranische Unterstützer gestellt. Dies führte zu einem Zerwürfnis der Hamas mit Teheran, das erst nach Jahren gekittet werden konnte.
Mit seiner Positionierung hat sich Mashal seine Optionen am Golf offengehalten. Trotzdem würde es auch für ihn nicht leicht werden, die Isolation der Hamas zu durchbrechen. Denn sie ist nicht nur im Westen verhasst, sondern auch in vielen Golfmonarchien. Und die Verhandlungen mit Israel über einen Gefangenenaustausch und eine langfristige Waffenruhe in Gaza, die die Hamas zwecks Reorganisation eigentlich dringend braucht, kommen ebenfalls nicht voran.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Hamas die restlichen Geiseln nur im Gegenzug für einen dauerhaften Waffenstillstand und einen Rückzug der israelischen Armee aus Gaza freilassen will. Mashal schiebt bei dem Treffen in Doha hingegen die Schuld auf Israel. Dessen Regierungschef Benjamin Netanyahu wolle den Krieg doch extra in die Länge ziehen, sagt er. Ähnlich kompliziert gestalten sich die Gespräche mit der Fatah, die für die Hamas ebenfalls überlebenswichtig sind.
Denn ohne Aussöhnung mit der Partei des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas wird es für die Hamas schwer, bei künftigen Verhandlungen über die Nachkriegsordnung ein Wort mitzureden. Doch die Fatah-Leute haben nicht vergessen, wie sie von der Hamas 2007 mit Gewalt aus Gaza rausgeworfen wurden. Entsprechend unwillig sind sie, der geschwächten Konkurrentin entgegenzukommen.
«Jeder dachte, die Hamas sei am Ende»
Mashal lässt sich von alldem nicht abschrecken. Die Hamas sei schon früher durch schwere Zeiten gegangen, sagt er zum Abschied. «Im Dezember 1992 hat Israel Hunderte unserer Leute und Führer nach Libanon ausgewiesen. Jeder dachte, die Hamas sei am Ende. Stattdessen kehrte sie stärker zurück.» Zudem sei die Hamas nicht einfach nur eine Kampfgruppe, sondern eine Nationalbewegung und sei damit tief in der palästinensischen Bevölkerung verankert.
Es ist nicht die einzige Durchhalteparole, die er in dem bis spät in die Nacht dauernden Gespräch von sich gibt. Allerdings ist fraglich, was von der Hamas nach dem Krieg übrigbleiben wird. Sollte sie ihre einstige Hochburg in Gaza verlieren, läge die Macht wieder bei den Exilanten am Golf und damit wohl bei Khaled Mashal. Für ihn persönlich wäre das eine Rückkehr an die Spitze. Doch der neue, alte Führer der Hamas wäre dann möglicherweise ein König ohne Königreich.







