Ernst Ludwig Kirchner war ein talentierter Selbstvermarkter und ein Kontrollfreak. Jetzt wird seine Berner Schau von 1933 rekonstruiert. Darin sind nach mehr als 90 Jahren zwei Schlüsselwerke seiner Davoser Zeit erstmals wieder vereint.
Künstlerisches Talent allein zählt nicht immer viel. Und selbst Genie reicht manchmal nicht aus für den Erfolg, wenn die Welt davon keine Notiz nimmt. Bei Vincent van Gogh genügte das Geschick seines Galeristen-Bruders Theo nicht, um sein Werk zu vermitteln. Der Maler der Sonnenblumen starb verzweifelt und fast unbekannt.
Museen und öffentliche Kunstinstitutionen sind unentbehrliche Plattformen der Sichtbarkeit. Und so überliess Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) nichts dem Zufall, als er 1933 von der Kunsthalle Bern für eine grosse Retrospektive angefragt wurde. Er erkannte die Gunst der Stunde, einmal eine eigene Ausstellung ganz selber einrichten zu können. Dies insbesondere in einer Zeit, als sein Name wieder zu verschwinden drohte von der Liste der gefeierten Künstler. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 galt er in Deutschland plötzlich als verfemt.
Die Schweiz war seit 1917 seine Wahlheimat. Und hier liess sich Kirchner die Fäden, was sein künstlerisches Schicksal betraf, nicht aus den Händen nehmen. Er war damals als Mitbegründer der Künstlergruppe Brücke auch bereits in der Schweiz bekannt für seine expressiven Aktdarstellungen und Szenen des Grossstadtlebens aus Berlin und Dresden. Weniger vertraut war man hier mit seinem späten Schaffen in Davos, das eine radikale künstlerische Neuorientierung darstellte. Umso willkommener war für Kirchner die Einladung nach Bern.
Kirchner hatte auch seine klaren Vorstellungen von einer Ausstellung über sein Schaffen. Er wählte nicht nur die Bilder aus, die gezeigt werden sollten. Er schrieb auch sämtliche Katalogeinträge eigenhändig. Und er verfasste unter Pseudonym gleich auch noch die Kritik über seine eigene Schau.
Kurator seiner selbst
«Ich würde die ganze Ausstellung ja leicht aus eigenen Beständen machen können, aber es sieht besser aus, wenn einiges aus öffentlichem oder Privatbesitz unverkäuflich dabei ist», schrieb Kirchner an den Kunsthalle-Leiter Max Huggler. Er hatte ein Gespür dafür, wie man aus einer reinen Verkaufsschau einen musealen Anlass mit kunsthistorischer Tiefenschärfe und institutionellem Gewicht macht.
Damit deklarierte Kirchner gleich auch seinen Anspruch auf eine professionelle Ausstellungsstrategie. Er traf eine Auswahl von über 240 Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen. Die Berner Ausstellung von 1933 sollte schliesslich die umfangreichste Werkschau werden, die zu seinen Lebzeiten ausgerichtet wurde.
Sie umfasste alle bedeutenden Schaffensphasen – von den expressionistischen Anfängen bei der Künstlergruppe Brücke bis hin zu den jüngsten Arbeiten aus Davos. Die Davoser Jahre allerdings bildeten den Schwerpunkt dieser Schau seines Lebens.
Die Kirchnersche Selbstinszenierung von 1933 wird jetzt im Kunstmuseum Bern in einer Rekonstruktion gezeigt. Der Titel «Kirchner × Kirchner» soll so viel bedeuten wie «Kirchner mal Kirchner» oder «Kirchner meets Kirchner» und auf die Potenzierung verweisen, die der deutsche Expressionist damals mit seiner One-Man-Show an der eigenen Künstlerperson vollzogen hatte.
Nicht zuletzt dürfte der Berner Auftritt auch eine Gegenmassnahme im Hinblick auf den Umstand gewesen sein, dass er in seinem Heimatland gerade diffamiert wurde. Dort begann unter den Nazis seine systematische Ausgrenzung vom Kunstgeschehen. Seine Gemälde wurden in den öffentlichen Museen abgehängt und verschwanden in den Depots.
Werk aus dem Kanzleramt
Das Kunstmuseum Bern konnte für diese Schau hochkarätige Werke aus namhaften Sammlungen bekommen. Auf den Schildchen neben den Bildern prangen Namen wie das MoMA in New York oder das Museum of Fine Arts in Boston, aber auch solche bedeutender deutscher Museen und wichtiger Privatsammlungen.
Erstmals konnte auch das Pendant zum hauseigenen Riesengemälde «Alpsonntag. Szene am Brunnen», das nach der Schau 1933 vom Kunstmuseum Bern direkt angekauft wurde, ausgeliehen werden: nämlich der «Sonntag der Bergbauern», der sich seit 50 Jahren im Kabinettssaal des Bundeskanzleramts in Berlin befindet. Dem deutschen Publikum ist das Bild gut bekannt, weil es regelmässig in den Fernsehnachrichten erscheint: als malerische Kulisse der Kabinettssitzungen der deutschen Regierung.
Aufgrund seiner monumentalen Ausmasse von 4 auf 1,70 Meter musste das Gemälde über die Terrasse mit einem Kran in den Ehrenhof des Bundeskanzleramts heruntergelassen werden. Nun sind die beiden Bilder nach über 90 Jahren erstmals wieder vereint.
Von Kirchner lernen
Die von Kirchner selber gut dokumentierte Schau ist ein Lehrgang für jeden angehenden Kurator. Sie zeigt, wie man Bilder hängt, kombiniert, auch farblich aufeinander abstimmt, Bildachsen schafft, damit Kunst und Architektur zum Erfahrungsraum verschmelzen und zum grossen Seherlebnis werden. «Eine Ausstellung fertig und formal richtig hängen ist ja dasselbe als wie ein Bild gestalten», schrieb Kirchner damals an Max Huggler.
Er verstand seine Ausstellung nicht bloss als Leistungsschau, sondern auch als kompositorischen Akt, wenn nicht gar als eigentliches Gesamtkunstwerk. So gestaltete Kirchner auch das Plakat für die Schau und den Katalog, für den er eigens fünf Holzschnitte anfertigte sowie zu jedem einzelnen Werk in der Ausstellung einen Kommentar verfasste.
Damit aber nicht genug. Kirchner dokumentierte seine Präsentation auch selber mit der Fotokamera. Und da ihm die Qualität seiner Aufnahmen nicht genügte, beauftragte er überdies einen professionellen Fotografen mit zusätzlichen Aufnahmen. Dank diesen historischen Fotografien lassen sich heute Konzeption und Inszenierung der Ausstellung gut nachvollziehen.
Sein eigener Kritiker
Dass Ernst Ludwig Kirchner all diese Aufgaben übernahm, die eigentlich Sache der Kunsthalle gewesen wären, wirft die Frage auf, ob er am Ende ein Kontrollfreak gewesen sein könnte. Weil man ihm freie Hand liess, konnte er jedenfalls sein Bedürfnis ausleben, die Rezeption seines Werks bis zu einem gewissen Grad selbst zu steuern und zu beeinflussen. Und so sicherte er sich die Autorschaft dieser Schau bis ins kleinste Detail.
Neben dem Katalogtext von Max Huggler lieferte Kirchner unter dem Pseudonym Louis de Marsalle gleich auch noch einen eigenen Text. In dem Aufsatz analysierte er mit dem professionellen Rüstzeug eines Kunstkritikers die konsequente Entwicklung seiner Malerei von den frühen Werken bis zu den späten Arbeiten.
Wobei er als den Höhepunkt seines Schaffens nicht etwa seine Phase der expressiven Brücke-Bilder betrachtete, die seinen Ruhm als wichtigste Figur des deutschen Expressionismus begründete. Vielmehr erachtete er die Bilder seiner Davoser Zeit ab den 1920er Jahren als sein Hauptwerk.
Sein Ziel war es auch, mit seiner eigenen Schau sein Spätwerk zu legitimieren. Er versuchte es aus seiner Brücke-Zeit plausibel abzuleiten und einem breiteren Publikum verständlich zu machen. Eine Winterthurer Ausstellung mit diesen Werken im Jahr 1924 hatte nämlich einige Kritik geerntet. Der neue Stil des Expressionisten Kirchner war damals zu wenig verstanden worden.
Um sein Schaffen ins optimale Licht zu rücken, entschied sich Kirchner auch ausschliesslich für jene Werke, die ihm als besonders gelungen und aussagekräftig erschienen. Darunter befand sich etwa das frühe Bild «Strasse mit roter Kokotte» von 1924/25 aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid. Schliesslich war Kirchner für solch vibrierende grossstädtische Strassenszenen in Deutschland berühmt geworden.
Allerdings hatte Kirchner dieses Bild nachträglich überarbeitet. Er übermalte die ursprünglich spontan-dynamischen Linien zugunsten von ruhig wirkenden Farbflächen, was besser zum Stil der Spätwerke seiner Davoser Zeit passte. Damit hatte Kirchner kein Problem. Auch nahm er sich sogar gelegentlich die Freiheit heraus, Bilder vorzudatieren, wenn dies seiner eigenen Erzählung der künstlerischen Entwicklung dienlich war.
Zusammen mit Max Huggler hatte Kirchner 1932 die grosse Picasso-Schau im Kunsthaus besucht. Davon zeigte er sich allerdings enttäuscht. Es sei nicht verwunderlich, verstehe das Publikum diesen Meister nicht, wenn seine Werke so schlecht gehängt seien, schrieb er an seine Lebensgefährtin Erna Schilling. Damals wurde eine Ausstellung generell chronologisch gegliedert. Kirchner indes schwebte bei der Choreografie seines eigenen Schaffens weit mehr vor.
Das wird auch jetzt deutlich in der Berner Rekonstruktion seiner Schau. Die Bilder treten miteinander nicht nur farblich und thematisch in einen Dialog. Auch emotional-erzählerische Bezüge sind zu entdecken. So platzierte Kirchner 1933 ein Bildnis seiner Lebensgefährtin Erna Schilling neben ein solches mit einer Szene zum damals aufkommenden Ausdruckstanz.
Erna Schilling war selber Tänzerin. Als sie Kirchner ins freiwillig gewählte Exil in die Bündner Berge folgte und dort, weitab vom Grossstadtleben, das sie gewohnt war, in einer Alphütte lebte, wurde sie depressiv. Melancholisch blickt sie nun in der neuen Berner Schau aus dem Bild und gleichsam hinüber auf die daneben gehängte Szene mit einem Maskentanz.
Geschickte Verkaufsstrategie
Ernst Ludwig Kirchner nutzte die Ausstellung von 1933 auch dafür, sich als museumswürdiger Künstler zu positionieren. So inszenierte er seinen Auftritt geradezu museal durchorchestriert, wie historische Aufnahmen zeigen. «Für die Ausstellung habe ich auch schon eine Idee», schrieb er an den Kunsthalle-Leiter. «Alle beide 4-Meter Bilder sollen in den Vorraum. Die Rückwand des Laternenlichtraumes wird mit acht 75 × 150 Formaten behängt. Das gibt eine ruhige Horizontale als Auftakt und in der Durchsicht durch die Türe lauter Senkrechte der Hochformate. Eine wundervolle Harmonie rechts und links Adam und Eva die grossen Holzfiguren.»
Bei den beiden grossen Querformaten handelt es sich um die erwähnten Pendants «Alpsonntag. Szene am Brunnen» und «Sonntag der Bergbauern», die jetzt wieder zusammen zu sehen sind. Das Erstere fand durch Kirchners Weitsicht und Grosszügigkeit seinen Weg in die Sammlung des Kunstmuseums.
Denn auch dies war Kirchner besonders wichtig: die Zusicherung eines Gemäldeankaufs – eine Forderung, der zwar nicht die Kunsthalle, aber das Kunstmuseum Bern nachkommen konnte. Der gesammelte Betrag lag zwar weit unter dem Kaufpreis des «Alpsonntags». Man hatte von Mäzenen gespendete Gelder in der Höhe von 4250 Franken erhalten, doch das hochalpine Querformat war mit 16 000 Franken angeschrieben.
Erst interessierte sich das Museum für die jetzt ebenfalls ausgestellte «Berglandschaft von Clavadel». Kirchner aber war darüber nicht erfreut, er verstand sich vor allem auch als Figurenmaler und wollte als solcher Eingang ins Museum finden.
Überdies sah er sich in einer Linie mit Ferdinand Hodler, dessen monumentale Figurenbilder und Berglandschaften damals schon im Kunstmuseum Bern versammelt waren. Er, Kirchner selber, sei derjenige, der über Hodler hinausgegangen sei und die Schweizer Malerei weiterentwickelt habe, schrieb er im Katalog der Schau von 1933 selbstbewusst.
Der «Alpsonntag» vereint beide Elemente: die Figur und die Landschaft. Und so gab Kirchner dieses bedeutende Werk weit unter dem Preis für 4250 Franken nach Bern. Es ist das einzige Gemälde, das zu Lebzeiten des Künstlers von einem Schweizer Museum erworben wurde.
«Kirchner × Kirchner», Kunstmuseum Bern, bis 11. Januar 2026. Katalog: Fr. 49.– im Museumsshop.