Trockene Hitze greift die Schleimhäute an, Gewitter lösen
Asthma-Attacken aus: Wetterextreme beeinträchtigen Atemwege und Lunge. Die Folgen können dramatisch sein, vor allem für Vorerkrankte.
Als die ersten Kinder im Chelsea and Westminster Hospital in London eintreffen, begreift der Notfallmediziner Charles Stewart zunächst nicht, was geschehen ist. Ein kleiner Patient nach dem anderen klagt über schwere Atemnot. Die Kinder und ihre Eltern sind verstört und verängstigt, Stewart und seine Kollegen eilen von einem Notfallbett zum nächsten, müssen rasch entscheiden, wer ihre Hilfe am schnellsten braucht. An jenem warmen Junitag im Jahr 2023 strömen insgesamt 50 Kinder in die Notaufnahme der Klinik, innerhalb weniger Stunden. «Wir waren sehr beunruhigt», erzählt der Kinderarzt heute. Zwei Drittel der Patienten litten an schwerer Atemnot, vier von ihnen waren in einem lebensbedrohlichen Zustand.
Erst allmählich kam Stewart mit seinen Kollegen darauf, dass die Atemnot mit dem Gewitter zusammenhängen musste, das kurz zuvor über der britischen Hauptstadt niedergegangen war. Die Kinder waren an einem Gewitterasthma erkrankt, einer durch die extreme Wetterlage ausgelösten Atemnot.
Hitze und Gewitter verschlimmern Atemwegserkrankungen
Mit dem Klimawandel drohen mehr Hitzewellen, Gewitter und Starkregen. «Wir werden künftig mehr von diesen aussergewöhnlichen Ereignissen sehen, mit teilweise gravierenden Folgen für die Gesundheit», sagt die Epidemiologin Ana Vicedo Cabrera, die am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern die Forschungsgruppe zu Klimawandel und Gesundheit leitet.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass vor allem Menschen mit Atemwegserkrankungen davon bedroht sind. Menschen mit Asthma zum Beispiel oder mit der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung COPD, bei der die Lunge geschädigt und die Atemwege verengt sind.
Weltweit war 2023 das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen, das Jahr 2024 dürfte bald seinen Platz einnehmen. Europa ist von den steigenden Temperaturen besonders betroffen und erwärmt sich rund doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt. Eine Studie der Universität Oxford ergab, dass vom erwarteten Temperaturanstieg auf dem Kontinent die Schweiz den grössten relativen Anstieg an unangenehm und potenziell gefährlich heissen Tagen erleben wird, darauf folgen Grossbritannien und Norwegen.
Herz und Kreislauf sind bei Hitze nicht das einzige Problem
Wie eine aktuelle Studie im Fachblatt «Environmental Epidemiology» ergab, leiden bei Hitze vor allem die Atemwege, Menschen mit bereits bestehenden Lungenerkrankungen sind besonders gefährdet.
Für die Studie hat ein internationales Forscherteam, dem auch Vicedo Cabrera angehört, mehr als 88 Millionen Todesfälle über einen Zeitraum von durchschnittlich 18 Jahren analysiert, aus 532 Städten in 33 Ländern. Die Forschenden stellten fest, dass das Risiko, an Atemwegserkrankungen zu sterben, bei sehr hohen Temperaturen besonders gross war, und das schon ab einem Alter von 40 Jahren. Im Vergleich dazu fiel das Sterberisiko bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich niedriger aus. «Das hat uns überrascht», sagt Vicedo Cabrera. Bislang hatten sich die meisten Studien zu Auswirkungen von Hitze auf Herz und Kreislauf konzentriert, gingen Mediziner doch davon aus, dass hier die grössten Auswirkungen zu erwarten wären.
Auch eine aktuelle Analyse des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts in Allschwil ergab, dass unter anderem bei Menschen mit COPD ein deutlich erhöhtes Risiko besteht, bei hohen Temperaturen zu sterben. Das berichtet ein Team um die Epidemiologin Martina Ragettli im Fachblatt «Swiss Medical Weekly». Die Forschenden hatten dafür 320 000 Todesfälle in der Schweiz aus den Jahren 2003 bis 2016 ausgewertet.
Der Mensch atmet 10 000 Liter Luft am Tag
Über die Lungen atmen Menschen täglich rund 10 000 Liter Luft ein und aus, samt Staub und Pollen, Viren und Bakterien. Normalerweise transportieren die Flimmerhärchen, die die Schleimhaut der Atemwege wie eine Art Teppich auskleiden, solche unerwünschten Partikel hinaus. Hitze und Trockenheit jedoch schädigen die Schleimhaut. Diese entzündet sich, so dass die Flimmerhärchen den Schleim nicht mehr entfernen können und die Atemwege verstopfen. «Es kann daher vermehrt zu Reizungen und auch Infektionen kommen», erklärt Bernd Schmeck, der Leiter der Sektion für Atemwegsinfektionen an der Universität Marburg. Bei Patienten mit bestehenden Atemwegserkrankungen ist das Risiko besonders gross.
Zumal bei Hitze ein Teil der Körperwärme auch über die Lunge abgegeben wird. Gesunde Menschen atmen dann schneller und tiefer. «Bei Patienten mit der chronischen Lungenerkrankung COPD jedoch überbläht die Lunge, was ihre Atemnot noch steigern kann», erklärt Schmeck, der selbst zu Auswirkungen des Klimawandels bei Menschen mit Atemwegserkrankungen forscht. So etwa in einer aktuellen Studie, welche die Bedeutung des Zusammenspiels von Grunderkrankungen und Wetter für das Risiko einer Lungenentzündung untersucht.
Im rätselhaften Fall der Kinder im Chelsea and Westminster Hospital konnte die Hitze allein die Atemnot nicht erklären. Den wahren Auslösern auf die Spur kam der Notfallmediziner Stewart durch Berichte eines anderen Grosseinsatzes in der australischen Stadt Melbourne im November 2016. Eine Stunde nach einem Gewitter gingen dort die ersten Notrufe ein, um Mitternacht waren sämtliche Krankenwagen der Metropole im Einsatz. Innerhalb von 30 Stunden kamen 3365 Patienten wegen Atembeschwerden in die Notaufnahme verschiedener Krankenhäuser, zehn Menschen starben.
Gefahr durch explodierende Pollen
Wie spätere Auswertungen zeigten, war die Konzentration von Gräserpollen in der Luft an jenem extrem heissen Tag ohnehin ungewöhnlich hoch. Doch offenbar verstärkte das Gewitter deren Effekt noch: Im Inneren der Gewitterwolke saugten die Pollenkörner Feuchtigkeit auf und platzten. In winzige Partikel zerlegt, konnten sie dann besonders tief in die Lunge vordringen.
Schlimme Auswirkungen kann das vor allem bei Menschen mit Heuschnupfen und unzureichend behandeltem Asthma haben. Für sie steigt bei Gewitter das Risiko einer schweren Atemnot. «Das bedeutet, dass wir jeden Heuschnupfen ernst nehmen und auch Asthma so früh wie möglich behandeln müssen», erklärt Andrea Elmer, Lungenfachärztin und ärztliche Leiterin des MVZ Wiesbaden an der DKD Helios-Klinik in Wiesbaden, die sich seit Jahren mit den Auswirkungen extremen Wetters auf den Menschen beschäftigt.
Etwa dreissig Grosseinsätze wegen Gewitterasthma wurden weltweit seit dem Jahr 1983 dokumentiert. «Doch kommt es in geringerer Ausprägung sicher viel häufiger vor», sagt der Lungenfacharzt Schmeck. Wobei sich künftig auch in gemässigten Breiten mehr Gewitter zusammenbrauen könnten als bis anhin. Atmosphärenwissenschafter der Universität Innsbruck berichteten im April 2023 im Fachblatt «Climate Dynamics», dass sich zumindest in den Hochalpen die Blitzaktivität seit den 1980er Jahren in etwa verdoppelt hat.
Bereits im Jahr 2015 hatten unter anderem Forschende der ETH Zürich untersucht, inwieweit sich auch die Intensität von Gewitterregen in der Schweiz mit steigenden Temperaturen verändert. Die Auswertung von Daten aus dreissig Jahren von 59 Wetterstationen in der Schweiz ergab, dass mit jedem Grad Temperaturanstieg 6,5 Prozent mehr Regen fiel, in Gewittern nahmen die Niederschläge sogar um 8,9 Prozent zu. Starke Regenfälle hatten bei den Gewittern in London wie auch in Melbourne die Pollen in der Luft bersten lassen.
Mehr Allergene liegen in der Luft
Zudem wirkt sich die Erderwärmung der vergangenen Jahrzehnte auf die Pollenkonzentration in der Luft aus. «Bei unseren Messungen finden wir heute deutlich mehr Pollen als vor dreissig Jahren», sagt der Physiker Benoît Crouzy von Meteo Schweiz in Payerne. Vor allem Baumpollen – Hasel, Esche, Erle – findet sich in höheren Konzentrationen, wobei die Saison für Haselpollen heute meist schon im Januar beginnt. Und schliesslich produzieren Pflanzen aggressivere Pollen, wenn viele Schadstoffe wie Ozon in der Luft sind. Am Tag vor dem Gewitter in London im Juni 2023 war die Schadstoffbelastung der Luft besonders hoch gewesen.
Manchmal allerdings kann heisses Wetter auch aus anderen Gründen und ganz ohne Gewitter zu Atemnot führen. So bat eine Grundschullehrerin in diesem Frühsommer die Lungenfachärztin Elmer aus Wiesbaden um Rat, weil sie auf dem Schulhof plötzlich keine Luft mehr bekommen hatte.
Der Platanenhusten kann jeden treffen
Wie sich herausstellte, hatten die Platanen im Pausenhof ihre Atemnot ausgelöst. Der beliebte Stadtbaum trägt im Frühjahr und im Frühsommer an der Unterseite seiner Blätter und an den Knospen kleine Sternhaare, die unter dem Mikroskop wie winzige Dornen aussehen. Die Härchen können sich bei trockenem, warmem Wetter lösen und als Platanenstaub die Atemwege und die Augen reizen, die Nase und den Rachen. Mediziner sprechen dann von einem Platanenhusten.
Genau daran war die Grundschullehrerin erkrankt. Wie oft das Phänomen in Europa auftritt, ist nicht bekannt. «Doch müssen wir im Rahmen des Klimawandels sicher mit einer Zunahme der Fälle rechnen», sagt Elmer. Immerhin lassen die Symptome des Platanenhustens von selbst nach, die Lehrerin konnte nach der Pause schon wieder unterrichten. «Im Gegensatz zum Platanenhusten kann Gewitterasthma lebensbedrohlich sein», erklärt die Lungenfachärztin.
Um mehr über die Auslöser der Asthmaanfälle zu erfahren, nutzt der Physiker Crouzy von Meteo Schweiz Pollenmessstationen, die seit Anfang 2023 an inzwischen 16 Orten in der Schweiz zu finden sind – und stündlich die Art der Pollen und deren Konzentration in der Luft messen. «Wir haben bereits erste Anzeichen dafür gefunden, dass die Pollenkonzentration kurz vor einem Gewitter ansteigt», erklärt Crouzy.
In Zusammenarbeit mit Forschenden in Australien möchte der Physiker aus den Zusammenhängen zwischen stündlicher Pollenkonzentration, Gewitter und Asthma Informationssysteme entwickeln, um die Bevölkerung bei bedrohlichen Wetterlagen schützen zu können. So könnten dann vor allem Menschen mit Atemwegserkrankungen eine Schutzmaske tragen oder vorbeugend ein Kortisonspray oder Antihistaminika verwenden. Oder sie könnten einfach zu Hause bleiben. Damit niemand eine so schwere Atemnot erleben muss wie die Kinder am Chelsea and Westminster Hospital in London.
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