Der Klinikdirektor des Universitätsspitals Zürich, Christoph A. Meier, möchte die Arbeit der Ärzte messen und mehr Wettbewerb und Wahlfreiheit für die Patienten ermöglichen.
Christoph Meier, stellen Sie sich vor, ein guter Freund von Ihnen hat Prostatakrebs. Wo würden Sie ihn für die Operation hinschicken?
Ich würde ihm empfehlen zu schauen, wie viele Eingriffe in einem Zentrum jährlich gemacht werden, wie viele Operationen ein Chirurg pro Jahr durchführt und ob systematisch gemessen wird, wie häufig nach der OP die Komplikationen Inkontinenz und Impotenz auftreten. Diese Faktoren sagen viel über die Behandlungsqualität aus.
Welches Schweizer Spital macht denn am meisten Prostataoperationen? Und wie häufig kommen hier Inkontinenz und Impotenz vor?
Das weiss ich nicht. Viele Spitäler erheben zwar die Daten, diese sind aber meist nicht öffentlich zugänglich.
Warum nicht? Ein Patient muss doch wissen, wo er die beste Behandlung bekommt. Dafür haben wir die freie Arztwahl.
Tatsächlich ist der in der Schweiz gewünschte «Wettbewerb» im Gesundheitswesen in erster Linie auf Reputation und Hotellerie fokussiert statt auf relevante Qualitätsmetriken. Dabei wirken sich Letztere positiv auf die Behandlungsqualität aus, wie man etwa in Deutschland sieht. Dort wüsste ich auf Anhieb, wo ich meinen Freund hinschicken würde: in die Martini-Klinik in Hamburg. Deren Patienten leiden nach der OP nur halb so häufig an Inkontinenz oder Impotenz im Vergleich zu anderen deutschen Kliniken.
Wie haben die Hamburger das geschafft?
Die Martini-Klinik hat vor über fünfzehn Jahren angefangen, nach jedem Eingriff Inkontinenz und Impotenz zu messen, und konnte so die Operationstechnik und die Ausbildung stetig verbessern. Auch die einzelnen Ärzte werden auf kollegiale Art und Weise verglichen; als der Chef einmal schlechtere Resultate vorwies als ein jüngerer Kollege, schaute er diesem eine Woche lang über die Schulter, um von ihm zu lernen. Ausserdem haben die Urologen dort sehr viel Routine: In der Martini-Klinik werden jährlich über 2500 Prostatektomien durchgeführt, und dies durch ein Dutzend Urologen, im Durchschnitt macht jeder Operateur über 200 Eingriffe jährlich. In den Schweizer Zentrumsspitälern sind es ein Bruchteil davon; die hohe Zahl von Orten in unserem Land, an denen solche hochspezialisierten Eingriffe angeboten werden, hilft da nicht.
Warum trauen sich die Schweizer Kliniken nicht, sich zu messen? Zweifeln sie an ihrer eigenen Qualität?
Viele haben Vorbehalte, weil sich die Patientenpopulationen in den verschiedenen Zentren unterscheiden können. Wenn es zum Beispiel viele ältere Menschen mit mehreren Krankheiten gibt, steigt auch das Risiko für Komplikationen; diese Unterschiede kann man allerdings in der Auswertung berücksichtigen.
Sie selbst haben solche Metriken am Universitätsspital Basel eingeführt, als Sie dort Ärztlicher Direktor waren.
Wir begannen 2017 als Pionierprojekt in der Schweiz mit der Erfassung von sogenannten Prom, Patient-reported Outcome Measures. Die Patienten werden über Jahrzehnte befragt, um den Langzeiteffekt ihrer Therapien zu messen. Dabei geht es nicht nur um die körperliche Gesundheit, sondern auch um Lebensqualität. Bei einer Brustkrebspatientin schauen Sie beispielsweise nicht nur, ob der Krebs weg ist. Sie fragen auch, ob sie Schmerzen hat, wie sie sich fühlt, wenn sie in den Spiegel schaut, und wie das Sexualleben ist. Nach unserem Pilot haben auch andere Schweizer Spitäler mit dem Messen angefangen. Für eine gute Vergleichbarkeit braucht es aber möglichst viele Spitäler und Langzeitdaten.
Die Direktoren dreier Spitäler sagten kürzlich in den Tamedia-Zeitungen, Patienten rennten wegen jedes Wehwehchens in die Notaufnahme.
Die zitierten Spitaldirektoren haben nicht unrecht, aber es scheint mir nicht fair, die Schuld den Patienten zuzuweisen. Wir Leistungserbringer haben dieses Verhalten durch Werbung auch stark befördert – und tun dies immer noch. Vor einigen Jahren hing in der Region Zürich ein Werbeplakat für eine Notfallstation in doppeltem Weltformat. Darauf stand: «OFFEN – Rund um die Uhr, Notfall für Versicherte aller Klassen.»
Und jetzt haben wir das Geschenk: 2022 betrugen die Gesundheitskosten 91 Milliarden Franken. Warum fördern Spitäler diese Vollkaskomentalität?
Anbieter in unserem Gesundheitswesen werden vor allem nach Volumen bezahlt – je mehr Behandlungen sie durchführen, desto mehr Geld verdienen sie. Das bedeutet: Das primäre ökonomische Interesse von Leistungserbringern liegt auf der Quantität. Mit patientenzentrierten Qualitätsmessungen möchte ich den Fokus neu auf den Mehrwert für den Patienten legen.
Lassen sich mit Ihrer patientenzentrierten Qualitätsmessung Kosten sparen? In den USA ist kein solcher Effekt sichtbar.
Die Studienlage ist widersprüchlich. Man könnte sich beispielsweise überlegen, die Vergütung nicht mehr über die Summe der Leistungen zu regeln, sondern auch ans Behandlungsergebnis zu knüpfen. Spitäler, welche bei solchen Messungen mitmachen, bekommen eine zusätzliche Abgeltung – und können bei den Patienten punkten. Dadurch könnte sich ein wirklicher Qualitätswettbewerb entwickeln.
Wo liegt dabei der Spareffekt?
Wenn Spitäler nicht mehr nach der Anzahl von Untersuchungen und Eingriffen, sondern nach dem Behandlungsergebnis bezahlt werden, haben sie weniger Anreize, Massnahmen mit kleinem Nutzen durchzuführen. Experten vermuten, dass 20 bis 30 Prozent der Kosten in diese Kategorie fallen.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen Sie Rückenleiden. Wenn Lähmungen da sind, ist völlig klar, dass es eine Magnetresonanztomografie (MRI) braucht und man allenfalls operieren muss. Doch bei vielen Patienten besteht kein zwingender Grund für eine Operation. Wenn Sie, wie jetzt, einen Markt haben, in dem MRI und OP sehr gut bezahlt werden, ist die Versuchung grösser, dass man rascher operiert. Dabei würden Zeit, Schmerzmittel und Physiotherapie häufig auch helfen; die meisten Rückenschmerzen werden mit der Zeit besser.
Aber die Physiotherapien nehmen ja auch zu. Die Kosten haben sich in den letzten zehn Jahren von 600 Millionen Franken auf 1,3 Milliarden Franken pro Jahr mehr als verdoppelt.
Das stimmt, aber Physiotherapien sind vermutlich oft günstiger als Operationen, die ja anschliessend auch eine Physiotherapie brauchen. Unser System belohnt derzeit aufseiten Leistungserbringer häufig die teurere Variante. Schweden, die Niederlande und auch die USA testen hingegen Modelle, bei denen es eine Pauschale für das ganze Problem «Rückenschmerzen» gibt. Dann fällt der Anreiz weg, etwas zu machen, nur weil es Geld gibt.
Dafür hat man dann als Spital den Anreiz, die günstigste Behandlungsmethode zu forcieren, weil man so Kosten spart und trotzdem entlöhnt wird. Dann bekommt der Patient vielleicht die OP nicht, obwohl er sie braucht.
Ja, da besteht das Risiko der Unterversorgung, aber das lässt sich mit den Qualitätsmessungen minimieren. Ich begrüsse den für die Schweiz innovativen Ansatz der integrierten Gesundheitsorganisation Réseau de l’Arc der Privatklinikgruppe Swiss Medical Network (SMN), der Krankenkasse Visana und des Kantons im Berner Jura.
Es handelt sich um ein Netzwerk aus verschiedenen Gesundheitsfachpersonen.
Ja, im Netzwerk Réseau de l’Arc arbeiten alle zusammen: der Hausarzt, die Spezialisten, die Psychiater, Therapeuten, Pflegefachpersonen, Sozialarbeiter und viele mehr. Zusammen kümmern sie sich um die gut 50 000 Bewohner der Region, wobei sich derzeit 1500 für dieses Modell entschieden haben. Der Clou dabei ist, dass die Leistungserbringer nicht mehr für eine einzelne Behandlung Geld von der Krankenkasse verlangen können. Stattdessen bekommt das Réseau de l’Arc für jede versicherte Person eine Art Jahrespauschale.
Das heisst: Je weniger operiert wird, desto mehr Geld schaut für die Gesundheitsorganisation heraus.
Genau. Dadurch erhält auch die Prävention eine wichtigere Rolle: Jeder gesunde Patient ist auch finanziell ein Gewinn. Und die verschiedenen Fachleute haben einen Anreiz, teure Untersuchungen zu minimieren, wenn diese dem Patienten keinen Mehrwert bringen. Ergo tauschen sie ihre Daten besser aus. Dafür braucht es eine Kultur der Zusammenarbeit, und es müssen alle mit demselben digitalen klinischen Informationssystem arbeiten.
Im Juni stimmen wir über zwei Initiativen ab. Die Mitte fordert eine Kostenbremse, die SP mehr Prämienverbilligungen. Und Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider möchte unverbindliche Kostenziele für Leistungserbringer definieren. Sie sprechen nun von Jahrespauschalen für Gesundheitsnetzwerke wie im Jura. Was ist am realistischsten?
Am Schluss ist es an der Gesellschaft, zu entscheiden, wie viel Geld sie für das Gesundheitswesen ausgeben will. Aber schauen Sie: Israel zum Beispiel hat die gleiche Lebenserwartung wie die Schweiz, aber mit einem Drittel der kaufkraftbereinigten Gesundheitskosten. Das Delta muss der Bevölkerung erklärt werden: Entweder sollte es bei uns um zwei Drittel billiger werden, oder wir müssen zeigen, was bei uns so viel besser ist. Aber ehrlich gesagt: Ich argumentiere lieber nicht mit den Kosten.
Wie bitte? Die hohen Prämien stehen im Sorgenbarometer der Bevölkerung regelmässig weit oben.
In der Schweiz sind die meisten Gesundheitsdienstleister und Patienten allergisch auf die Kostenfrage. Sie haben sofort Angst, dass man ihnen etwas wegnimmt. Bei jeder Abstimmung kommt sofort das Argument mit der Zweiklassenmedizin und der bedrohten freien Arztwahl. Auch jetzt wieder. Ausserdem sind wir uns zu wenig bewusst, dass jeder Franken, den wir beispielsweise im Gesundheitswesen ausgeben, nicht mehr für die 13. AHV-Rente, die Ausbildung, das Militär, die Forschung oder erneuerbare Energien zur Verfügung steht.
Haben Sie die Hoffnung in die Politik verloren?
Überhaupt nicht. Aber ich glaube nicht, dass sich in der Schweiz die Probleme über eine staatliche Lenkung lösen lassen. Die Ansätze müssen von den Patienten und den Leistungserbringern kommen. Ich setze grosse Hoffnungen in Pionierprojekte wie das im Jura. Hoffentlich ziehen andere Akteure nach. Die amerikanische Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente in Kalifornien kümmert sich bereits um über 12 Millionen Versicherte. Mit dieser Menge an Patienten funktioniert der Risikoausgleich zwischen Gesunden und Kranken, und man hat eine gute Datenbasis, um die Qualität und Effizienz zu messen. Dies entspricht auch unserem politischen Anspruch eines regulierten Wettbewerbes – derzeit haben wir einen volumentreibenden Pseudowettbewerb ohne eine solide qualitative Datengrundlage.
Sie sprechen die ganze Zeit von Qualität. Die Schweiz hat heute bereits eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, wie Politik und Gesundheitsbranche nicht müde werden zu betonen.
Ich weiss nicht wirklich, ob das stimmt. Wir haben fast nur Daten zur Menge der erbrachten Leistungen und deren Zugänglichkeit – in beiden Kategorien sind wir Weltmeister. Auf vielen anderen Gebieten sind wir schlecht dokumentiert. Wir erheben nur das Minimum, zum Beispiel, wie häufig Patienten sterben, falsche Medikamente erhalten, sich wund liegen, im Spital stürzen oder wieder eintreten. Aber für die Patienten ist auch die Lebensqualität zentral.
Werteorientierte Gesundheitsversorgung
afo. Christoph A. Meier ist Klinikdirektor für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich. Er engagiert sich für eine werteorientierte Gesundheitsversorgung (Value Based Health Care) und ist in verschiedenen Gremien tätig, so im Expertenboard für das Ranking der «Best Hospitals in the World» von «Newsweek» sowie im Swiss Medical Board. Zuvor arbeitete er als Ärztlicher Direktor am Universitätsspital Basel und war Mitglied der Eidgenössischen Qualitätskommission.