In den vergangenen drei Jahren ist die Migration aus Europa stark geschrumpft. In den Niederlanden gibt es nun Ängste, für Fachkräfte nicht mehr genug attraktiv zu sein.
Ähnlich wie die Schweiz führen die Niederlande eine endlos scheinende Debatte über die Zuwanderung. Die Migrationspolitik ist den einen zu lasch, den anderen zu restriktiv, und Dritte glauben, es kämen die falschen Ausländer – nämlich zu viele Geringqualifizierte und zu wenige Spezialisten.
Aber diese Diskussion könnte nun eine neue Wendung nehmen. Vielleicht werden dem Land bald die fleissigen Hände fehlen. Die Einwanderungsstatistik enthielt jüngst nämlich erstaunliche Zahlen: Seit 2022 kommen immer weniger Europäer ins Land. In den ersten neun Monaten jenes Jahres waren es netto noch 119 000 Personen gewesen, 2024 liegt ihre Zahl bloss bei einem Viertel davon.
Lahmt die niederländische Wirtschaft, und zieht sie deswegen weniger Arbeitskräfte an? Oder liegt es umgekehrt am Angebot, etwa weil Osteuropäer in ihren Heimatländern attraktive Stellen finden und nicht mehr in hoher Zahl in den Westen ziehen?
Man sei nicht ganz sicher, wo die Gründe des Rückgangs lägen, sagt Peter Hein van Mulligen, Chefökonom der Statistikbehörde CBS. Es sei aber möglich, dass immer mehr Europäer es vorzögen, in der Heimat zu bleiben und dort zu arbeiten. Gibt es in Europa also bald einen harten Wettbewerb um Arbeitskräfte?
Die Polen bleiben lieber zu Hause
Für diese These spricht einiges. Zum Beispiel kommen viel weniger Polen in die Niederlande als vor zwei Jahren: Damals lag ihre Zahl bei 7300, jetzt sind es 1800. Bei deutschen Staatsbürgern war der Saldo 2024 sogar negativ: Es haben also mehr von ihnen die Niederlande verlassen, als zugezogen sind.
Vor allem die polnische Wirtschaft hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine eindrückliche Entwicklung erlebt, und Polen ist zu einem Einwanderungsland geworden. Fachkräfte sind knapp, und der Regierung wäre es am liebsten, die Polen gingen gar nicht mehr ins Ausland arbeiten.
Die Zahlen lösen in den Niederlanden gleichzeitig Erstaunen und ein leises Erschrecken aus. Das Land sei nicht mehr in jedem Fall attraktiv für ausländische Arbeitskräfte, sagte etwa Monique Kremer vom Migrationsrat gegenüber der Zeitung NRC. Das Gremium berät die Regierung in Ausländerfragen. In Spanien beispielsweise wird laut Kremer davor gewarnt, in die Niederlande zu ziehen: Das Risiko sei gross, ausgebeutet zu werden, und die Wohnungssuche gestalte sich schwierig, heisse es im südeuropäischen Land.
Aber die Wirtschaft ist auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Seit 2023 sterben im Land mehr Menschen, als geboren werden. Gleichzeitig boomt die Wirtschaft, und es gibt mehr offene Stellen als Arbeitslose.
Das führt in den Niederlanden zu einer widersprüchlichen Migrationsdiskussion. Einerseits gibt es laute Klagen, dass es im Land infolge der Zuwanderung eng geworden sei. Das anerkennt auch Kremer vom Migrationsrat. Andererseits benötigen Unternehmen ausländische Fachkräfte, um die Innovation voranzutreiben.
Das gilt etwa für den Chipmaschinenhersteller ASML und dessen Zulieferer, die im Grossraum Eindhoven tätig sind. Die Unternehmen suchen fast verzweifelt Spezialisten. In Europa finden sie diese kaum mehr, sie weichen deshalb auf Indien und die Türkei aus. Diese Verschiebung spiegelt sich in der Migrationsstatistik. Während die Zuwanderung aus Europa stark schrumpft, war sie aus Asien nur leicht rückläufig.
Die Landwirtschaft saugt zu viel Personal ab
Unter Druck gerät in den Niederlanden nun besonders die Landwirtschaft. Politiker und Ökonomen hadern mit dem Sektor. Wie die Schweiz zählen die Niederlande zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern Europas; besonders der Dienstleistungssektor ist stark mit der globalen Ökonomie verflochten.
Je nach Definition und Statistik ist der kleine Staat, dessen Fläche jener der Schweiz entspricht, aber auch der zweit- oder drittgrösste Agrarexporteur der Welt.
Kritiker sagen, dass der Sektor zu lange billige Arbeitskräfte aus dem Ausland erhalten habe und so über das «gesunde» Mass expandiert habe. Viele der vor allem in Osteuropa rekrutierten Arbeitskräfte würden beengt leben und würden teilweise sogar ausgebeutet. Gleichzeitig überschreitet die auf Massenproduktion getrimmte Landwirtschaft die Grenzwerte bei Nitraten so stark, dass sie mittlerweile als schwerer Umweltsünder gilt.
Kremer vom Migrationsrat zöge es daher vor, wenn die Landwirtschaftsbetriebe aus dem Ausland IT-Fachkräfte statt Pflücker rekrutierten. Diese würden dem Sektor wenigstens helfen, nachhaltiger zu produzieren.
Das allerdings tönt ein wenig nach Planwirtschaft. Die niederländischen Behörden werden sich die Migranten nur beschränkt aussuchen können. Schliesslich hängt die Einwanderung schwergewichtig von der Arbeitsnachfrage der Firmen («pull») und dem globalen Geschehen («push») ab.