Nach Jahren der Euphorie herrscht in Wirtschaftskreisen gegenüber China zunehmend Ernüchterung. Auch Schweizer Firmen reagieren verunsichert. Mit Sandoz und Lonza haben sich jüngst zwei Schwergewichte gar zum Rückzug entschlossen.
In China fühlen sich viele Bürger von ihrer Regierung zunehmend im Stich gelassen. Sie wissen nicht, wie es mit ihrem Land weitergehen wird.
Bezeichnend dafür war der Auftritt des Ministerpräsidenten Li Qiang am diesjährigen Nationalen Volkskongress, der vor einer Woche in Peking zu Ende ging. Li beliess es im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Problemen des Landes bei technokratischen Ausführungen. Er vermied es, die Nöte vieler Bürger wegen der gefallenen Immobilienpreise oder der deutlich gestiegenen Jugendarbeitslosigkeit konkret anzusprechen. Vorgänger von ihm hatten die Zusammenkunft des chinesischen Scheinparlaments dazu benutzt, alltägliche Sorgen beim Namen zu nennen und den Betroffenen Mut zu machen.
Direktinvestitionen auf tiefstem Stand seit 30 Jahren
China-Experten berichten denn auch von einer zunehmend deprimierten Stimmung im Land. Die verbreitete Unsicherheit überträgt sich auf internationale Unternehmen, die im Reich der Mitte Geschäftsbeziehungen pflegen. Sie fragen sich, ob die Zeiten des jahrelangen starken Wachstums in China vorbei sind und ob sie im Land noch investieren sollen.
Direktinvestitionen von ausländischen Firmen fielen im vergangenen Jahr in China auf den tiefsten Stand seit dreissig Jahren. Damit setzte sich ein Trend fort, der bereits seit einigen Jahren anhält. Auch Schweizer Konzerne, die lange Zeit in den Jubelchor der internationalen Geschäftswelt einstimmten und von Wachstumschancen in China schwärmten, halten sich zunehmend mit Investitionen zurück.
Abzulesen ist dies an der rückläufigen Zahl von Mitarbeitern, die schweizerische Tochterunternehmen in der Volksrepublik beschäftigen. Laut der Statistik der Schweizerischen Nationalbank ist sie gegenüber dem Höchstwert von 182 000, der 2015 erreicht wurde, um über 15 000 beziehungsweise um 9 Prozent gefallen. Im selben Zeitraum bauten Schweizer Firmen die Belegschaft in den USA um 3 Prozent auf 317 000 Beschäftigte aus. EU-weit nahm die Mitarbeiterzahl sogar um 16 Prozent zu – auf fast 900 000.
Ein Teil des Rückgangs dürfte auf Automatisierungen zurückzuführen sein. China gilt vor allem in den Ballungsräumen entlang der Küste, wo sich die Aktivitäten der meisten internationalen Unternehmen nach wie vor konzentrieren, nur noch bedingt als Niedriglohnland. Die stark gestiegenen Lohnkosten haben auch Schweizer Industriefirmen gezwungen, verstärkt auf Maschinen und Roboter zu setzen.
DSM-Firmenich schliesst zwei Vitaminfabriken
Wegen der schwachen chinesischen Konjunkturlage, zu der sich Flauten in weiteren grossen Absatzmärkten wie Europa und Japan gesellen, häufen sich zudem Restrukturierungen. Industriefirmen bauen Stellen ab, weil ihre Fabriken ungenügend ausgelastet sind. So sah sich der schweizerisch-niederländische Chemiekonzern DSM-Firmenich im vergangenen Jahr gezwungen, in China gleich zwei Werke für die Herstellung von Vitaminen zu schliessen. Für eines von ihnen konnte nun immerhin ein Käufer gefunden werden. Wie viel der neue Eigentümer, eine kaum bekannte chinesische Firma, dafür bezahlt, wurde nicht bekanntgegeben.
Von Expansion auf Verkleinerung hat in China auch der Schliesstechnikkonzern Dormakaba umgeschaltet. Das Zürcher Unternehmen beteuert zwar, es habe bis anhin «keinen signifikanten Personalabbau» gegeben, doch verzichtet es gleichwohl darauf, frei werdende Stellen neu zu besetzen. Auch hat es sich von Temporärkräften getrennt. Dormakaba kämpft wie viele baunahe Industriefirmen mit dem rapiden Fall der Bautätigkeit in China.
Bei Restrukturierungen empfiehlt sich Diskretion
Dass Schweizer Unternehmen ihre Präsenz in der Volksrepublik reduzieren, ist indes nur die eine Seite. Mittlerweile fragen sich manche Firmen, ob sie sich nicht ganz aus dem chinesischen Markt zurückziehen wollen.
China als Absatzmarkt bereits aufgegeben hat der Basler Generikahersteller Sandoz. Der Rückzug wurde diskret kommuniziert. Dass der Konzern nach gut zwanzigjähriger Marktpräsenz nun einen Schlussstrich zieht, wurde Anfang Dezember 2023 nur dank einer Mitteilung des südafrikanischen Konkurrenten Aspen Pharmacare bekannt. Dabei erklärte Aspen, das Chinageschäft von Sandoz im Tausch gegen mehrere Narkosemittel in Europa übernommen zu haben.
Verschärfte Konkurrenz durch einheimische Firmen
Auf Anfrage sagt Sandoz, in China nur eine Handvoll Produkte vertrieben zu haben. Die Belegschaft habe sich auf «wenige hundert Angestellte» beschränkt, die nun zu Aspen übertreten würden. Klartext sprach vor wenigen Wochen an einem Medienanlass indes der Verwaltungsratspräsident der Firma, Gilbert Ghostine. Er sagte, dass man angesichts der grossen Zahl von einheimischen Konkurrenten keine Möglichkeit gesehen habe, eine führende Stellung im chinesischen Markt aufzubauen.
Zu einem ähnlich ernüchternden Fazit gelangte die Firma Lonza. Das Unternehmen, das in seinem Tätigkeitsgebiet, der Herstellung von Pharmaprodukten für Dritte, weltweit eine ähnlich dominierende Position wie Sandoz im Generikageschäft besitzt, bläst nach lediglich fünf Jahren zum Rückzug aus China. Als Grund für die Einstellung der Fertigung von Biotech-Medikamenten nannte das Management an der Bilanzmedienkonferenz Ende Januar ebenfalls die starke Konkurrenz durch einheimische Anbieter.
Westliche Konzerne genossen gegenüber chinesischen Mitbewerbern lange Zeit oft einen technologischen Vorsprung und konnten hohe Preise für ihre Produkte durchsetzen. Mittlerweile ist dieser aber in vielen Branchen stark geschrumpft oder völlig verschwunden.
Wachsende Sorge wegen Protektionismus
Auch Maschinenhersteller sehen sich verstärkt von Konkurrenten aus China bedrängt. Auf Nachfrage von Finanzanalytikern räumte die Berner Maschinenbaufirma Bystronic bei der Präsentation ihres Jahresergebnisses ein, dass sie in China 2023 nur noch eine schwarze Null geschrieben habe. Es bestünden im Markt Überkapazitäten, und die Kunden seien ausgesprochen preisbewusst geworden.
Ein weiterer Aspekt, der Industrieunternehmen mit Blick auf China wachsendes Unbehagen bereitet, sind die politischen Spannungen vor allem zwischen der Volksrepublik und den USA. Hohe Zölle erschweren zunehmend den Austausch zwischen diesen Wirtschaftsräumen. Für Pharmawirkstoffe beispielsweise erheben die USA eine Abgabe von 20 Prozent auf Einfuhren aus China, wie die NZZ aus Branchenkreisen erfuhr. Im Fall einer Wiederwahl von Donald Trump dürften, so lautet die Befürchtung, solche protektionistischen Massnahmen auf beiden Seiten weiter zunehmen.
Trotz allen Unwägbarkeiten, die Firmen in China plagen, hegen aber nicht alle Rückzugspläne. Es gibt auch Unternehmen, die explizit in China bleiben wollen. Manche sind gar bestrebt, ihre Präsenz auszubauen.
Dazu zählen besonders Firmen mit Verbindungen zur Automobilbranche. In keinem anderen Land der Welt werden mehr Autos produziert und abgesetzt als in China. Wegen des Vorsprungs, den sich chinesische Anbieter bei der Entwicklung und Herstellung von Elektroautos erarbeitet haben, spielt die Musik in der Elektromobilität zudem zunehmend in Fernost.
Auch Roche will bleiben
Der Kunststoffhersteller Ems, der rund 60 Prozent seines Umsatzes mit Kunden aus der Autobranche erwirtschaftet, vergrössert schon länger seine Präsenz im Reich der Mitte. Der Automobilzulieferer Autoneum gab vor zehn Tagen bekannt, neben einem zusätzlichen Werk in Indien auch eine weitere Produktionsstätte in China zu eröffnen – die zehnte.
Sich aus China zurückzuziehen, kommt auch für den Pharmariesen Roche nicht infrage. Der neue Verwaltungsratspräsident Severin Schwan betonte am vergangenen Dienstag an der Generalversammlung in Basel, dass China nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Standort für die Forschung und Entwicklung zunehmend wichtig werde. Roche stellt hochinnovative Medikamente her – ein Angebot, das China trotz allen eigenen Fortschritten offenbar nach wie vor nicht ausschlagen kann.