Während Österreich seine imperiale Vergangenheit zelebriert, tut es sich immer wieder schwer im Umgang mit NS-belasteten Orten. Das zeigt sich derzeit an der Debatte um den bedeutendsten Platz des Landes.
Mit einem Staatsakt in der Wiener Hofburg hat Österreich diesen Sonntag die Gründung der Zweiten Republik vor 80 Jahren gefeiert. Zwei Wochen nach der Befreiung Wiens von der nationalsozialistischen Herrschaft proklamierte die provisorische Regierung von Karl Renner am 27. April 1945 die Unabhängigkeit Österreichs als demokratische Republik. Der sogenannte Anschluss an das «Dritte Reich» wurde dabei für «null und nichtig» erklärt.
Eine Mitverantwortung am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust erwähnte die Deklaration nicht, im Gegenteil: Österreich sei «das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist», heisst es in dem Dokument. Damit schrieb es die «Opferthese» fest, deren international legitimierte Grundlage bereits 1943 die Moskauer Deklaration geliefert hatte. In dieser gemütlichen Lebenslüge richtete sich die junge Republik für Jahrzehnte ein. Erst mit der Waldheim-Affäre 1986 geriet sie ins Wanken, und 1991 bekannte sich mit Bundeskanzler Vranitzky erstmals ein offizieller Vertreter zur Mitschuld Österreichs.
Der Heldenplatz ist ein Parkplatz und eine Hundezone
Vom Mythos des ersten Opfers ist heute praktisch nichts übrig geblieben. Die Neubewertung der Geschichte erfolgte stetig und gründlich. Und doch tut sich die Republik immer wieder schwer im Umgang mit ihrer Vergangenheit nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Das zeigt sich etwa an den verschiedenen Bezeichnungen für das Dollfuss-Schuschnigg-Regime von 1933 bis 1938 oder am jahrelangen Streit um Hitlers Geburtshaus in Braunau, das man vor einigen Jahren noch kurzerhand abreissen wollte.
Ebenso lange wurde diskutiert, was man mit der Statue Karl Luegers im Zentrum Wiens machen sollte. Der Bürgermeister der Jahre 1897 bis 1910 prägte die Hauptstadt, war aber auch glühender Antisemit und bereitete so Hitlers Ideologie den Boden. Vor zwei Jahren wurde nach einem Wettbewerb beschlossen, das Denkmal um 3,5 Grad zu kippen. Die Umsetzung war für vergangenes Jahr geplant, verzögert sich aber.
Ratlos scheint die Republik dagegen nach wie vor im Umgang mit ihrem geschichtsträchtigsten Platz im Herzen Wiens, dem Heldenplatz. Auf zwei Seiten von der Hofburg umgeben und mit zwei Reiterdenkmälern versehen, ist die imperiale Vergangenheit hier allgegenwärtig. In den Ballhausplatz übergehend, wo Kanzleramt und Präsidentschaftskanzlei liegen, bildet er zudem das politische Zentrum des Landes und ist deshalb immer wieder Ort von Grossdemonstrationen.
Darüber hinaus ist die Nutzung des Heldenplatzes, dem Thomas Bernhard 1988 sein berühmtestes Theaterstück widmete, aber reichlich profan. Er ist auch ein grosser Parkplatz und eine Hundezone. Nichts erinnert dagegen an die Zeitenwende in der österreichischen Geschichte, für die der Heldenplatz auch steht: Hier jubelten am 15. März 1938 rund 250 000 begeisterte Menschen Adolf Hitler zu, als er vom sogenannten Altan der Neuen Burg den «Anschluss» Österreichs ans Deutsche Reich verkündete. Die Terrasse über dem Haupteingang des Gebäudes wird deshalb auch als «Hitler-Balkon» bezeichnet.
Die neue, seit Anfang März amtierende Regierung hat nun die Absicht bekundet, ein Zeichen zu setzen. In ihrem Programm heisst es unter dem Titel «Impulse für eine zeitgemässe Erinnerungsarbeit», die Nutzung des Platzes sei zu prüfen. Damit nimmt die Koalition eine jahrelange Debatte auf, in der die Vorstellungen zur Umgestaltung des Platzes indes weit auseinandergehen.
Einen Beitrag dazu liefert auch das Haus der Geschichte Österreichs, das zeitgeschichtliche Museum des Landes, das 2018 ebenfalls nach Jahrzehnten der Kontroverse – provisorisch und auf zu geringem Platz – just in der Neuen Burg eröffnet wurde. Es bemüht sich seit seinem Bestehen um eine Kontextualisierung vor allem des «Hitler-Balkons», gehören doch die Räumlichkeiten, die auf den Altan führen, zur Ausstellungsfläche. Es würde die Terrasse für Besucher auch gerne zugänglich machen.
Doch für den Balkon ist nicht das Haus der Geschichte zuständig, sondern die Burghauptmannschaft, und diese hält ihn aus Sicherheitsgründen geschlossen. Nur ganz ausnahmsweise durften Opfer des NS-Regimes die Fläche betreten. Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel durfte 1992 vom Altan aus eine Rede halten. Abgesehen davon bleibt diese «Ikone der österreichischen Mitverantwortung», wie es die 2023 verstorbene Zeithistorikerin Heidemarie Uhl formulierte, ein tabuisierter Ort.
Von einer beschämenden geschichtspolitischen Leerstelle spricht Monika Sommer, die Direktorin des Hauses der Geschichte. Die jüngste Vergangenheit solle so in Vergessenheit geraten, meint sie. Das ist typisch für Österreichs Kunst des Verdrängens. Allerdings bietet die fast sakrale Unantastbarkeit erst recht die Gefahr einer Überhöhung und der Vereinnahmung. Das zeigte sich etwa vor zwei Jahren, als die Jungpartei der FPÖ in einem Video mit rechtsextremer Bildsprache auch den «Hitler-Balkon» inszenierte und damit einen Skandal auslöste.
Ein Granitblock aus dem KZ für den «Hitler-Balkon»?
Das Haus der Geschichte will dem entgegentreten und hat anlässlich des 80. Jahrestags der Unabhängigkeit gemeinsam mit der Kunstuniversität Linz Künstler eingeladen, Ideen für ein Denkmal am Altan der Neuen Burg zu entwerfen. Drei Projekte wurden jüngst präsentiert: Eines sieht vor, dass ein massiver Granitbrocken aus dem Steinbruch des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen auf die Terrasse gestellt wird, ein anderes eine gläserne Decke über der Fläche, die verhindern würde, dass man ganz aufrecht stehen kann. Ein drittes schliesslich schlägt eine «Drehung» des Balkons nach innen und ein Wasserspiel vor. Für die Entwürfe sollte die Machbarkeit keine Rolle spielen, eine Umsetzung ist weder geplant noch realistisch. Es gehe um einen Denkanstoss, sagt Sommer.
Es ist allerdings offen, wie viel Zeit sie noch hat, um den Ort zumindest in den Räumen des Museums zu kontextualisieren. Die letzte Regierung hat nämlich beschlossen, das Haus der Geschichte solle in einen Neubau im Museumsquartier umziehen. Dort erhielte es mehr Ausstellungsfläche – allerdings würde allein der Bau rund 40 Millionen Euro kosten, noch ohne den Betrieb gerechnet. Eine Machbarkeitsstudie hält zudem fest, dass darin Platz für Büros und Sammlungsdepots fehle. Ob der Umzug die gewünschte inhaltliche Aufwertung des Museums bringt, ist deshalb fraglich.
Klar ist, dass der derzeitige Standort prominenter und historisch von zentraler Bedeutung ist – eigentlich eine ideale Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte der Republik. Deshalb wurde auch Widerstand gegen den Umzug laut. Damit drohe «einer der wichtigsten österreichischen Erinnerungsorte geschichtspolitisch zu verwaisen», schreibt ein Komitee von Prominenten, dem etwa der Schauspieler Cornelius Obonya, der Schriftsteller Doron Rabinovici oder die Direktorin des Jüdischen Museums, Barbara Staudinger, angehören.
In der Zeitung «Der Standard» plädiert auch der Historiker Markus Wurzer von der Universität Graz gegen eine Verlegung des Hauses der Geschichte. Nun, da man die Generation der Holocaust-Überlebenden verliere, würden NS-belastete Orte die entscheidenden Schauplätze erinnerungspolitischer Deutungskämpfe. Der «Hitler-Balkon» sei wie kein anderer Ort im kollektiven Bildgedächtnis verankert, und der Einzug des Zeitgeschichte-Museums sei deshalb ein Glücksfall gewesen. Dieses brauche zwar mehr Platz, aber in der Hofburg, schreibt der Historiker.
Wie die Regierung auf die Appelle reagieren wird, ist offen. Der seit wenigen Wochen zuständige Vizekanzler Andreas Babler liess verlauten, er habe für diese Stimmen «aufgrund des historischen Ortes viel Verständnis». Die Unterlagen zu dem Projekt würden derzeit geprüft.