Noch nie seit Kriegsbeginn sind bei einer Attacke so viele Kinder getötet worden wie am vergangenen Freitag, als eine Rakete neben einem Spielplatz einschlug. In Kriwi Rih herrscht seither nicht nur Fassungslosigkeit – sondern auch Angst.
Immer wieder streichelt Waleria Zwitok zärtlich das Gesicht ihres toten Sohnes. Immer wieder bricht sie in Tränen aus, schüttelt ungläubig den Kopf über dem kleinen Körper in dem kleinen Sarg, an den sie sich klammert. Sie scheint die Trauergemeinde um sich herum kaum wahrzunehmen, auch nicht die liturgischen Trauergesänge der orthodoxen Geistlichen, von denen einige an diesem Dienstagvormittag ebenfalls mit den Tränen kämpfen. Der Tod eines Kindes geht allen sehr nahe.
Timofi Zwitok war drei Jahre und neun Monate alt, als er am vergangenen Freitagabend bei einem russischen Raketenangriff auf die zentralukrainische Stadt Kriwi Rih getötet wurde. Die Rakete explodierte nur wenige Meter entfernt von dem Spielplatz, auf dem er zusammen mit seiner Grossmutter gespielt hatte. Ein Video von jenem Abend zeigt, wie Rettungskräfte versuchen, den schlaffen Körper des Buben wiederzubeleben. Wenig später erlag er im Spital seinen Verletzungen, die Grossmutter überlebte schwer verletzt.
Insgesamt wurden zwanzig Personen getötet, unter ihnen neun Minderjährige. Timofi war das jüngste Opfer. Nie zuvor seit Kriegsbeginn hatten so viele Kinder bei einem einzelnen Angriff ihr Leben verloren. Nicht nur in Kriwi Rih, sondern in der ganzen Ukraine sorgt die Tragödie für Fassungslosigkeit und Entsetzen. Angriffe auf Zivilisten gab es zwar auch in dieser Stadt immer wieder – doch die Tatsache, dass es diesmal die Kleinsten getroffen hat, trifft die Menschen ins Mark.
Die Angst gehört zu Putins Kalkül
Besonders eindrücklich zeigt sich das am Tag zuvor auf dem Spielplatz, wo die Rakete explodierte: Auch drei Tage nach dem Angriff kommen im Minutentakt Einwohner vorbei, um der Getöteten zu gedenken. Die Blumen und Plüschtiere, die sie niederlegen, türmen sich inzwischen auf jedem einzelnen Spielgerät. Unter einer Parkbank voller Teddybären ist immer noch eine Lache mit eingetrocknetem Blut zu erkennen.
Auch Ljudmila Mirhorozka ist hierhergekommen, um zu trauern, ganz allein. Sie habe zwar keines der Opfer persönlich gekannt, sagt sie mit Tränen in den Augen. «Aber das ist unsere Stadt, das sind unsere Kinder. Ich kann nicht gleichgültig sein.» Die 47-Jährige vermutet, dass der Angriff ein Signal der Russen an den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski gewesen sein könnte – Kriwi Rih ist dessen Heimatstadt. «Wenn Putin wirklich Frieden wollte, würde so etwas nicht passieren», sagt Mirhorozka. «Verhandlungen bringen nichts, Sanktionen bringen nichts. Wir brauchen Waffen, um die Russen aus unserem Land zu vertreiben.»
Ohnehin sind die von Donald Trump angeregten Friedensgespräche ins Stocken geraten, obwohl der amerikanische Präsident immer wieder betont, dass Wladimir Putin einen Frieden wolle. Für solche Aussagen hat Olexander Scherbena nur ein verächtliches Schnauben übrig: «Schauen Sie sich das an, Herr Trump», sagt der 40-jährige Vater und zeigt auf den Spielplatz. Er ist gemeinsam mit seiner achtjährigen Tochter Slata hier, die mit stoischem Gesichtsausdruck neben ihm steht. «Sie hat auf Tiktok von dem Angriff erfahren und wollte unbedingt hierherkommen», sagt er. Slata sei mit zwei der getöteten Kinder zur Schule gegangen, habe manchmal selbst hier gespielt.
Ihm selbst scheint es hier nicht ganz wohl zu sein, nervös tritt er von einem Fuss auf den anderen. Seinen 12-jährigen Sohn habe er heute nicht zur Schule gehen lassen, sagt Scherbena. «Ich hatte einfach Angst, dass ihm etwas passieren könnte.» Er reagiere nun anders, wenn der Luftalarm ertöne. Auch das gehört zum russischen Kalkül: Moskau weiss, dass Angst eine mächtige Waffe ist – und welche Angst könnte grösser sein als jene, die Eltern um ihre Kinder haben? So dienen Angriffe wie jener auf Kriwi Rih dazu, die Zivilbevölkerung zu zermürben. Es ist eine Strategie, die leider funktioniert.
«Ich weiss nicht, was die Russen geraucht haben»
Auf dem Spielplatz zeigt sich, mit welcher Wucht die russische Rakete explodierte. Die Splitter des Gefechtskopfes haben die eisernen Stangen der Schaukeln und anderer Spielgeräte durchschlagen und Laternenpfähle aus Beton zerstört. Selbst in mehreren hundert Metern Entfernung sind Fensterscheiben zerborsten. Die Kinder, die am Freitagabend hier spielten, hatten keine Chance.
Dabei hatte der Angriff nach russischer Darstellung einer Versammlung von Kommandanten der ukrainischen Armee gegolten; bis zu 85 von ihnen seien getötet worden, behauptete das Verteidigungsministerium in Moskau. Laut russischen Propagandisten war ein hochpräziser Schlag auf das Restaurant «Rosemarine» erfolgt, das rund 50 Meter hinter dem Spielplatz liegt.
Vor Ort wird schnell klar, dass das alles gelogen ist: Das «Rosemarine» hat zwar einige Schrapnellstücke abbekommen, ist sonst aber weitgehend unbeschädigt. «Hier hat vielleicht ab und zu ein Soldat einen Kaffee getrunken», sagt ein Mitarbeiter des Restaurants, der Glasscherben zusammenkehrt. «Aber am Freitag waren hier nur Zivilisten zu Gast. Ich weiss nicht, was die Russen geraucht haben, dass sie solches Zeug behaupten.»
Nach der Beerdigung die Sirenen
Die Trauerfeier für den dreijährigen Timofi Zwitok ist kaum vorbei, als in der Kirche schon die nächste beginnt: Nun werden die Leichen der siebenjährigen Arina Samodin und ihres Grossvaters Serhi Samodin in offenen Särgen aufgebahrt. Der 67-Jährige hatte seine Enkelin am Freitagabend vom Tanzunterricht abgeholt und war danach mit ihr zum Spielplatz gegangen. Beide waren sofort tot, als die Rakete einschlug. Arinas vierjähriger Bruder liegt noch immer in kritischem Zustand im Spital.
Nach dem Gottesdienst macht sich die Trauergemeinde auf den Weg zum Friedhof, wo sich die Angehörigen schluchzend ein letztes Mal von Arina und Serhi Samodin verabschieden, bevor die beiden Särge in die Erde heruntergelassen werden. «Ich habe schon viele Kinder beerdigen müssen», sagt der Priester Dmitri. «Aber man gewöhnt sich nie daran.»
Dann, als sich die ersten Trauergäste auf den Heimweg machen, beginnen in Kriwi Rih die Sirenen zu heulen. Der Luftalarm gehört hier wie überall in der Ukraine zwar längst zum bitteren Alltag. Doch nach dem tödlichen Angriff vom Freitag löst die Angst vor den Sirenen noch grössere Angst aus.