Oppositionelle Medien in Venezuela nutzen Avatare, um der Repression zu entgehen. Denn das Maduro-Regime ist digital hochgerüstet.
Seit Venezuelas Präsident Nicolás Maduro vor zwei Monaten die Wahlen fälschen liess, erlebt das Land eine brutale Repressionswelle. Rund 1500 Menschen, unter ihnen auch Jugendliche, wurden verhaftet und ohne Gerichtsurteil in Hochsicherheitsgefängnisse gesperrt. Auch 16 Medienschaffende wurden inhaftiert. Nur 4 wurden bisher wieder freigelassen. Wer einen Bericht mit seinem Namen unterschreibt, riskiert einen Besuch der Geheimpolizei. «Operación Tun Tun» (Türklopfen) hat das Regime die Verhaftungsoffensive zynisch genannt.
«Hallo, ich bin der ‹Dude›», sagt der Avatar
Zwei Dutzend venezolanische Medien- und Faktencheck-Plattformen haben nun Konsequenzen gezogen. Vertreten werden sie nun von einem Paar Mitte zwanzig. «Hallo, ich bin La Chama», sagt die Frau im braunen, schulterfreien Kleid. «Chama», das ist eine junge Frau in Venezuela. Dann kommt der junge Mann im karierten Hemd über dem weissen T-Shirt: «Hallo, ich bin El Pana» – der Kumpel.
Im schnellen Redefluss der beiden ist ein leichter venezolanischer Akzent herauszuhören, als sie fortfahren: «Wir wurden von künstlicher Intelligenz erschaffen. Aber unsere Inhalte sind echt, verifiziert, von hoher Qualität und von Journalisten gemacht. Und wir machen das, weil diese ihr Gesicht nicht zeigen können. Das ist zu riskant», erklären die beiden – auf Knopfdruck auch auf Englisch. Keine Frage, es sind Avatare, virtuelle Menschen.
In Lateinamerika gibt es Avatare schon bei vielen Online-Händlern oder Behörden. Dass sich aber Journalisten hinter solchen virtuellen Menschen verstecken, um sich zu schützen, ist neu. Dahinter steckt die kolumbianische Journalistenorganisation Connectas. Sie nennt die Aktion «Operación Retuit». «Die Idee ist, dass die Nachrichten der Avatare in allen möglichen sozialen Netzwerken geteilt werden, um so das Informationsmonopol in Venezuela zu umgehen», erklärt Carlos Eduardo Huertas, der Direktor von Connectas.
Rund 100 Medienschaffende seien an der Operation beteiligt. Sie schicken die Artikel an eine zentrale Redaktion, die sie dann über Youtube veröffentlicht. Künftig sollen die Kurzvideos der Avatare auch ins Russische und Chinesische übersetzt werden – dank künstlicher Intelligenz. China und Russland gehören zu den wichtigsten ausländischen Verbündeten des Regimes in Venezuela. Die Opposition in diesen Ländern soll mitbekommen, was deren Unterstützung in Südamerika anrichtet. Huertas sagt, dass es auch Anfragen von oppositionellen Medien aus anderen karibischen Diktaturen wie Kuba und Nicaragua gebe, die ebenfalls Avatare kreieren wollen, um der Repression zu entgehen.
Eine neue Strategie, um autoritäre Regime auszutricksen
«Das ist eine originelle Strategie, um der Repression zu entgehen», sagt Maria Virginia Marín, Politikwissenschafterin und Geschäftsführerin von ProBox, einem venezolanischen Medienbeobachter, der von Washington aus die sozialen Netzwerke in Venezuela beobachtet und auswertet. So etwas habe sie bisher nur bei Journalisten aus Taiwan gesehen, die sich vor Recherchen Chinas schützen wollten. Die Initiative «Retuit» sei direkt nach den Wahlen sehr stark genutzt worden. «Das ist ein neuer Weg, um autoritären Regimen in unserer Region etwas entgegenzusetzen», so Marín.
Dass die Medien gerade in Venezuela neue Wege suchen, um sich Gehör zu verschaffen, ist nicht verwunderlich. Denn dort haben die seit 25 Jahren regierenden linksautoritären Präsidenten Hugo Chávez und Nicolás Maduro die Meinungsfreiheit systematisch eingeschränkt und die digitale Repression ausgebaut.
Das nordamerikanische Digital Forensic Research Lab der demokratischen Denkfabrik Atlantic Council hat dazu jüngst einen Bericht veröffentlicht. Danach ist Venezuela zum Vorbild für digitalen Autoritarismus geworden und exportiert seine antidemokratischen Methoden in andere Länder auf dem amerikanischen Kontinent. «Die Kontrolle der Information, die weitverbreitete Überwachung und die digitale Unterdrückung sind wichtige Pfeiler für das Überleben des venezolanischen Regimes», heisst es im Bericht.
Fast alle privaten Medien sind heute in der Hand von Günstlingen des Regimes. 400 Medienplattformen sind geschlossen worden. Die staatliche Zensur überwacht seit langem Radio- und Fernsehsender und droht mit deren Schliessung, wenn sie Inhalte verbreiten, die gegen Maduro gerichtet sind. «Der Geheimdienst analysiert die sozialen Netzwerke genau», sagt der oppositionelle Journalist Luis Carlos Díaz, der selbst schon im Gefängnis sass.
Die Regierung fürchtet die Macht der sozialen Netzwerke
Kein Wunder: Der siegreiche Oppositionskandidat Edmundo González war wenige Monate vor der Wahl noch weitgehend unbekannt. Seinen vom Regime nicht anerkannten Wahlsieg verdankt er vor allem der Kommunikation über private Kanäle wie Whatsapp oder X. Das erklärt auch, warum Maduro nach dem Wahlbetrug den Nachrichtenkanal X in Venezuela sperren liess.
Inzwischen suchen die Sicherheitskräfte bei Verhaftungen immer nach den Smartphones der Opfer. Sie fragen nach den Zugangscodes und werten die gesamte Kommunikation aus. Dabei helfe Software aus China, Iran und Russland, sagt die Social-Media-Expertin Marín. Über eine App, über die eigentlich Mängel in der Infrastruktur gemeldet werden sollen, ermuntert die Regierung die Bevölkerung, Mitbürger zu denunzieren, die verdächtigt werden, die Opposition zu unterstützen.
Zeitweise liess das Regime selbst auch Avatare auftreten: In einem eigens gegründeten Sender House of News priesen die virtuellen Menschen «Noah» und «Daren» den angeblichen Wirtschaftsboom in Venezuela an und erklärten, dass nun massenhaft Touristen ins Land strömen würden. Inzwischen wurde der Sender aber wieder eingestellt. Das Regime versuche mit allen Mitteln, Propaganda oder Desinformation zu verbreiten, um den über die sozialen Netzwerke verbreiteten Informationen entgegenzutreten, sagt Marín.