In den vergangenen 15 Jahren wurde in Grossbritannien eine wachsende Zahl von Jugendlichen mit Pubertätsblockern und Hormonen behandelt. Nun fordert eine angesehene Kinderärztin in einer offiziellen Studie eine radikale Trendwende.
Grossbritannien geht bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die sich mit ihrem Geburtsgeschlecht unwohl fühlen, einen zunehmend restriktiven Weg. Dieser Trend dürfte sich nach der Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts zum Umgang mit der Gender-Medizin am Mittwoch noch einmal erheblich verstärkt haben. Die renommierte Kinderärztin Hilary Cass kommt in dem fast 400 Seiten langen Bericht zu dem Schluss, dass den meisten Betroffenen mit einer breiteren Behandlung ihrer psychischen Probleme besser gedient sei als mit medikamentösen und hormonellen Eingriffen. «Wir müssen Kinder als ganze Personen betrachten und nicht nur durch die Linse ihrer Gender-Identität», schreibt Cass.
Häufung psychischer Erkrankungen
Den Bericht in Auftrag gegeben hatte im Jahr 2020 der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) als Reaktion auf Vorwürfe, die auf Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie spezialisierte Klinik Tavistock habe ihre jungen Patienten aus ideologischen Gründen in Richtung einer Behandlung mit Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen gedrängt. Bereits in ihrem Zwischenbericht im Jahr 2022 bestätigte Cass, dass die Ärzte die Gender-Medizin viel zu freigiebig und unkritisch verschrieben hatten – was den NHS zur Schliessung der Spezialklinik im Norden Londons veranlasste.
Im Abschlussbericht wird dieser Befund bestätigt und mit Empfehlungen ergänzt. Im Jahr 2009 wurden in Grossbritannien noch rund 50 Minderjährige wegen Geschlechtsdysphorie behandelt; dabei handelte es sich meistens um biologische Knaben, die sich seit Jahren im falschen Körper gefühlt hatten. Im Jahr 2022 war die Zahl auf rund 5000 Kinder und Jugendliche angestiegen. Unter den jungen Menschen waren viele biologische Mädchen, die erst seit kurzem über eine Geschlechtsdysphorie zu klagen begonnen hatten.
Cass betont, dieser Anstieg lasse sich nicht bloss mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Trans-Identitäten erklären. Sie stellt vielmehr einen Zusammenhang her mit der Häufung psychischer Leiden der zwischen 1995 und 2009 geborenen Jugendlichen. Diese Generation Z sei unter dem Einfluss der sozialen Netzwerke, der Verfügbarkeit von Online-Pornografie und der Sorge über globale Krisen aufgewachsen – weshalb eine mögliche Geschlechtsdysphorie in einem breiteren Kontext anzugehen sei.
Fehlende wissenschaftliche Evidenz
Basierend auf einem international gebräuchlichen Modell wurden in Grossbritannien bisher ab dem Alter von 12 Jahren Pubertätsblocker und ab dem Alter von 16 Jahren Testosteron oder Östrogen verabreicht (chirurgische Eingriffe sind erst bei Erwachsenen möglich). Doch Cass kritisiert, es gebe nur völlig unzulängliche wissenschaftliche Evidenz zur Frage, ob solche Behandlungen der psychischen und physischen Gesundheit der jungen Patienten langfristig förderlich seien oder nicht. Fatalerweise hatte die Tavistock-Klinik keine solchen Langzeitdaten erhoben.
Nicht zuletzt kritisiert Cass auch das aufgeheizte politische Klima in der Debatte rund um die Rechte von Trans-Personen. Es gebe kein anderes Gebiet der Medizin, in dem Fachleute derart Angst vor Einschüchterungen hätten. Darum hätten Allgemeinpraktiker junge Patienten mit Verdacht auf Geschlechtsdysphorie vorschnell an die spezialisierte Tavistock-Klinik abgeschoben, wo jahrelange Wartelisten entstanden.
Auch wenn Cass bei Gender-Behandlungen zu grosser Zurückhaltung mahnt, räumt sie ein, dass der medizinische Pfad für eine Minderheit der jungen Patientinnen und Patienten der richtige sei. Allerdings warnt Cass die Jugendlichen auch mit Blick auf die Häufung von nonbinären Geschlechtsidentitäten davor, sich binären medizinischen Behandlungen zu unterziehen, die später nur schwer rückgängig gemacht werden könnten.
Juristisches Nachspiel?
Der NHS hat einige von Cass’ Empfehlungen bereits vorweggenommen. Nach der Schliessung der Klinik Tavistock werden die Jugendlichen heute in neuen regionalen Zentren ganzheitlich betreut. Jüngst hat der NHS zudem die routinemässige Abgabe von Pubertätsblockern eingestellt. Der Zugang dazu soll im staatlichen Gesundheitswesen bloss noch über ein Forschungsprogramm möglich sein.
Politisch könnte der Untersuchungsbericht jenen Stimmen Auftrieb geben, die auf eine gesetzliche Regulierung der Gender-Medizin auch in Privatkliniken drängen. Zudem liefert er ehemaligen Patientinnen und Patienten, die ihre Gender-Behandlungen bereuen, Munition für ihre geplante Sammelklage gegen die Tavistock-Klinik. Das Londoner Anwaltsbüro Pogust Goodhead liess ausrichten, die ehemaligen Patienten verdienten eine Entschädigung und die Verantwortlichen der Klinik müssten zur Rechenschaft gezogen werden.