2009 beschrieb die Sängerin ihre Musik betont selbstironisch als «seelenlosen Elektropop». Wie gut, dass sie auf ihrem neuen Album «Mayhem» wieder ganz die Alte ist und zu ihren künstlerischen Ursprüngen zurückfindet.
Für die heute 20-Jährigen sind die nuller Jahre retro. Wenn etwas «total Y2K» (Abkürzung für «year 2000») ist, dann ist es vor allem: alt. Die Figur Lady Gaga ist ein Erzeugnis dieses vergangenen Jahrzehnts, 2008 erlangte sie dank ihrem Debüt «The Fame» internationalen Erfolg.
Mit ihrem neuen Album «Mayhem» (zu Deutsch: Chaos) kehrt sie nun zu ihren Wurzeln zurück. Kann das funktionieren? Die kleinen Monster von damals, wie sie ihre Fans immer genannt hat, sind mittlerweile gross geworden.
Reine Oberfläche
2009 beschrieb Lady Gaga ihre Musik betont selbstironisch als «seelenlosen Elektropop». In einer Zeit, in der Plattenverkäufe rückläufig sind und der Mainstream sich in allerhand Nischen und Sparten auflöst, hat Lady Gaga sich zu einem Massenphänomen entwickelt. Dabei schrieb sie das Drehbuch des weiblichen Pop-Stars neu, präsentierte Sexualität etwas verrückter und expansiver, als es in der Britney- und Christina-Ära der Fall gewesen war. Haben die Stars der nuller Jahre versucht, den amerikanischen Traum durch Anpassungsleistungen Wirklichkeit werden zu lassen, ist Lady Gaga den Weg in die Gegenrichtung gegangen.
Die Sängerin kam 1986 als Stefani Joanne Angelina Germanotta in New York zur Welt, sie wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, spielt Klavier, seit sie vier Jahre alt ist, besuchte gemeinsam mit Paris Hilton eine katholische Mädchenschule und anschliessend die Tisch School of the Arts. Die brach sie ab und wurde trotzdem zum Star. Aber das ist die Geschichte der Stefani Joanne. Lady Gaga ist reine Oberfläche, pures Spektakel.
Egal, ob sie blutüberströmt auf der Bühne tanzte, sich wie das Schaufenster einer Metzgerei anzog – sie hatte es zur Tugend erhoben, den Freak in sich zu umarmen. Nichts an Lady Gaga hätte damals einer Marktforschung standgehalten, die stromlinienförmige Künstler hervorbrachte. Lady Gaga war ein Schock.
«Mayhem» ist nun eine Art selbstmythologisierende Nostalgie. «Abracadabra», in dem sie mit opernhafter Dramatik zusammenhangslose Silben über einen Techno-Beat schmettert, ist die Fortsetzung ihres Hits «Bad Romance» aus dem Jahr 2009. «Garden of Eden» wirkt wie eine Rückkehr in den Klub, den sie in ihrem ersten Hit «Just Dance» besuchte. Und der muntere Beat der verzerrten Industrial-Pop-Klage «Disease» bohrt sich ins Gehirn, wie es damals «Poker Face» tat.
Das siebte Studioalbum ist deutlich eingängiger als ihre letzten beiden Solowerke. Es ist prägnanter als das laue Country-Album «Joanne» aus dem Jahr 2016 und ihre unglücklich getimte Rückkehr auf die Tanzfläche «Chromatica» (2020). Hinfällig, zu erwähnen, dass es ausserdem die bessere Leistung ist, als ihre schauspielerische in dem an der Kasse völlig versagenden Film «Joker: Folie à Deux» neben Joaquin Phoenix. Thematisch knüpft die 38-Jährige zudem an ihre frühen Hits an, wenn sie in der tanzbaren Therapiesitzung «Perfect Celebrity» die Schattenseiten des Ruhms verhandelt. Allerdings sang sie in «Paparazzi» noch aus der Perspektive des Stalkers und wahrte durch diese Rollenprosa eine gewisse Distanz. Jetzt geht sie mit sich selbst ins Gericht: Sie habe es ja so gewollt mit der Berühmtheit.
Gesprächigere Pop-Stars
Seit Lady Gagas fulminantem Start vor knapp zwanzig Jahren ist die Pop-Musik, insbesondere unter Taylor Swifts mächtigem Stern, wesentlich gesprächiger und lockerer geworden. Selbst Künstler, die in Opposition zu Swifts Ästhetik stehen, wurden von ihr verändert. Charli XCXs Song «Brat» von 2024 (wie «Mayhem» angeheizt durch die Nostalgie der 2000er Jahre) ist mit ausladenden, achselzuckenden Texten gefüllt, die sich auf eine Art und Weise ehrlich und roh anhören, die Lady Gaga weiterhin ausklammert. Wenn sie ihre Dämonen oder Sehnsüchte ausdrückt, greift Gaga immer noch lieber zu einer Monster-Metapher («Suck on my diamond blood»). Subtilität, daran erinnert sie uns während des maximalistischen Spektakels von «Mayhem», war noch nie ihre Sprache. Stattdessen hat sich die Sängerin mit donnernder Künstlichkeit würdevoll über die Zeit gebracht.
Auch ihre musikalischen Anleihen führt sie fort. In «Shadow of a Man» huldigt sie Michael Jackson, in «Saturday Night Live» Prince und in «Zombieboy» den gesamten siebziger Jahren – kombiniert wird das alles immer wieder mit Gothic- und Grunge-Versatzstücken. Sie häutet sich von Nummer zu Nummer und bleibt dennoch unverkennbar Lady Gaga.