Vor 15 Jahren warb die Stadt Zürich um allerlei Anlässe: Denn diese bringen Aufmerksamkeit und Geld. Doch nun müssen die Bedürfnisse der Anwohner und des Gewerbes stärker in den Fokus rücken.
Im September blickt die Welt des Radsports nach Zürich. Denn dann sind die besten 1300 Athletinnen und Athleten im Zeitfahren, im Para-Cycling und im regulären Strassenrennen hier zu Gast, um sich zu messen. Die Organisatoren erwarten 800 000 Gäste aus aller Welt. Hunderttausende werden die Wettkämpfe am Fernsehen mitverfolgen.
Was auf den Fernsehbildern indes kaum zu sehen sein wird: Für die Zürcher Bevölkerung ist die Rad-WM mit erheblichen Einschränkungen verbunden. In der Stadt werden zentrale Verkehrswege wie die Dufourstrasse und die Quaibrücke während fast drei Wochen von 5 Uhr bis um 18 Uhr für den Verkehr gesperrt. Beim Bellevue, einem zentralen Knotenpunkt, wird der Verkehr zum Erliegen kommen.
Wer in dieser Zeit die Limmat überqueren will, ist zu Fuss wahrscheinlich am schnellsten – wenn bei dem Gedränge überhaupt von Schnelligkeit die Rede sein kann. Zürcherinnen und Zürcher, die weniger mobil sind, bleiben wohl am besten ganz daheim.
Mit ihren Dimensionen ist die Rad-WM sicherlich ein Sonderfall. Trotzdem steht sie sinnbildlich für einen Trend: Die vielen Grossanlässe werden in Zürich zur Belastung.
Die Street Parade etwa zog zuletzt 920 000 Besucher an. Damit gehört sie zu den grössten Freiluftveranstaltungen der Welt. Blauer Himmel und warmes Wetter vorausgesetzt, könnte die Zahl der Teilnehmer diesen Sommer die Millionengrenze knacken. Das Caliente im Langstrassenquartier zieht weit über eine Viertelmillion Leute an. Die Pride wird jedes Jahr erfolgreicher: 2023 verzeichnete sie 55 000 Besucherinnen und Besucher.
Und Politiker haben nicht genug. Als Nemo für die Schweiz den Eurovision Song Contest gewann, war für die meisten Stadtparlamentarier sofort klar: Nächstes Jahr soll die einwöchige Bombast-Veranstaltung in Zürich gastieren, Rahmenprogramm inklusive. In Malmö demonstrierten Zehntausende gegen die Teilnahme von Israel; die Polizei war im Dauereinsatz. Mit politischen Kundgebungen ist auch in Zürich zu rechnen.
Nichts gegen den Eurovision Song Contest. Aber viele Zürcherinnen und Zürcher wollen ihrem Alltag nachgehen und sich frei bewegen – und manchmal auch einfach ihre Ruhe haben. Das ist ein legitimer Wunsch, den es zu respektieren gilt. Die Stadt soll keine permanente Chilbi sein. Sie ist primär ein Wohn- und Arbeitsraum.
Organisatoren und Behörden müssen Rücksicht auf die Anwohner und Pendler nehmen. Sie müssen darum besorgt sein, dass die Veranstaltungen verdaubar bleiben, indem sie entsprechende Auflagen ausarbeiten. Und dann müssen sie sich trauen, diese Auflagen durchzusetzen. Das könnte bedeuten, dass auch einmal ein Spektakel in ein Aussenquartier verlegt oder wenigstens auf mehrere Standorte aufgeteilt wird.
Die Behörden dürfen bei solchen Verhandlungen durchaus selbstbewusst auftreten, denn die Stadt ist so beliebt wie noch nie. Wenn sie eines nicht mehr braucht, dann ist das Schleichwerbung in Form von Fernsehbildern und ausländischen Pressemeldungen. Ausserdem läuft hier so viel, dass es auf ein paar zusätzliche Termine im Jahr nicht ankommt.
Förderlich für das Image und erst noch rentabel
Es ist erwiesen, dass sich Events mit internationaler Ausstrahlung positiv auf die Bekanntheit der Gastgeber auswirken. Mit gutem Grund hat der Stadtrat unter Präsident Elmar Ledergerber (SP) Mitte der nuller Jahre grosse Hoffnungen in «Live at Sunset» oder «Freestyle.ch», in den Ironman und in das Reitturnier CSI gesetzt.
Für Ledergerber waren diese Ereignisse «ein hervorragendes Vehikel für Imagetransport und Tourismuswerbung». So steht es in einem Strategiedokument von 2008. Zürich lockte die mannigfaltigsten Anlässe an, um sich als Tourismusdestination in Szene zu setzen – und um Wertschöpfung zu generieren. Ein gutes Ziel für eine Stadt, die damals noch nicht so sehr auf Rosen gebettet war, wie sie es heute ist.
Denn Grossereignisse können für den Gastgeberstandort äusserst lukrativ sein. Das dreitägige Züri-Fäscht zum Beispiel hat mit seinen bis zu 2 Millionen Besuchern für eine Wertschöpfung von 370 Millionen Franken gesorgt. Gekostet hat es die öffentliche Hand bloss 1,25 Millionen.
Im Zusammenhang mit der Rad-WM im September ist ebenfalls mit schönen Einnahmen zu rechnen. Wer wissen will, welche Beträge winken, schaut am besten ins Vereinigte Königreich. 2023 fanden die Weltmeisterschaften in Glasgow statt und generierten dort gemäss einer Studie von Ernst & Young 129 Millionen Pfund an Wertschöpfung.
Ein solcher Betrag, umgesetzt in drei Wochen, ist selbst für Zürich verlockend.
Witiker müssen zu Fuss nach Hause
Vor 15 Jahren mögen Geld und Ansehen valide Argumente für Grossanlässe in der Stadt gewesen sein. Aber heute ist Zürich als Wohn- und Arbeitsort sowie als Feriendestination so beliebt wie selten zuvor. Im Vergleich zu 2008, dem Jahr von Ledergerbers Strategiepapier, haben die Übernachtungszahlen 2023 um 62 Prozent zugenommen.
Es mag arrogant klingen, aber es ist Fakt: Zürich ist schlicht nicht mehr darauf angewiesen, die Innenstadt für jede Festivität herzugeben – und die negativen Auswirkungen zu ertragen.
Exemplarisch zeigt sich dies an der Rad-WM: Der Bahnhof Stadelhofen und Teile des Seefelds liegen im Zentrum des Zuschauerbereichs. Das beschert den dortigen Läden und Restaurants voraussichtlich zwar etliche Laufkundschaft, stellt das Gewerbe jedoch auch vor Herausforderungen.
Zum Beispiel müssen Waren zu Zeiten angeliefert werden, zu denen eigentlich noch Nachtruhe gilt und normalerweise niemand arbeitet. Ab 5 Uhr sind die Strassen ja gesperrt. Die Kehrichtabfuhr kommt dann irgendwann nach 18 Uhr oder gar noch später. Für die Unternehmen bedeutet das einen erheblichen Mehraufwand.
Gross sind die Auswirkungen auch für die Bewohner des Quartiers rund um den Sechseläutenplatz. Weil alle Transporte nachts abgewickelt werden, müssen sie sich auf drei Wochen mit schlaflosen Nächten einstellen. Und tagsüber ist mit überfüllten Verkehrsmitteln, riesigem Gedränge und mit noch mehr Lärm zu rechnen.
Im Quartier Witikon trifft es die Anwohner noch härter. Manche von ihnen haben wegen der Rennen keinen Zugang zur Strasse mehr. Die Betroffenen können die zur Rennstrecke umfunktionierte Strasse nur an bestimmten Stellen und bei Rennlücken überqueren. Ihr Auto müssen sie auf einem Parkplatz abstellen, der nur zu Fuss erreichbar ist.
Wären Spitäler nicht auf die Barrikaden gegangen, wäre an Renntagen sogar die Gesundheitsversorgung eingeschränkt.
Was den Zürchern nicht passt, schaffen sie ab
Die Rad-WM liegt an der Grenze des Zumutbaren, und sie ist bloss eines von Dutzenden Happenings in diesem Jahr.
Von Anfang Mai bis Anfang Juni bringt der Zirkus Knie den Geruch nach Pferdekot auf den Sechseläutenplatz. Im Juni sind nacheinander Food Zurich, Pride, Oper für alle und das Eidgenössische Trachtenfest angesagt. Im Juli findet das Festival «Caliente» statt, und im August stinkt es nach der Street Parade tagelang nach Urin, bevor im Kreis 1 das Dörflifäscht losgeht.
Das summiert sich, und irgendwann haben die Leute genug. Die Zeiten von Elmar Ledergerbers Event-Euphorie sind passé. Den Zürcherinnen und Zürchern ist es mit den Festen und Spektakeln zu viel geworden. Zu viel Müll, zu viele gesperrte Strassen, zu viel Gedränge, zu viel Lärm und zu viel Gestank. In der Bevölkerung regt sich Widerstand.
Politischen Druck gab es beispielsweise gegen das Züri-Fäscht – so viel und so lange, bis die Veranstalter von sich aus aufgaben. Dass die Argumente der Verhinderer zum grössten Teil als fadenscheinig aufgefasst wurden, spielt keine Rolle – eine Machtdemonstration war es gleichwohl. Und es ist nicht auszuschliessen, dass sich die Bemühungen, Grossevents ganz zu verhindern, noch verstärken werden.
Auf diesen Unmut müssen die Stadtverwaltung und die Organisatoren von Grossereignissen besser eingehen. Sonst bekommen die Verhinderer noch mehr Aufwind und bekämpfen bald alles, was nach Vergnügen aussieht.
Das heisst: Die Anlässe müssen verträglicher für Bewohner und Gewerbe werden und besser über die Stadt verteilt sein. Es braucht verdaulichere Happen statt eine Aneinanderreihung von grossen Brocken.
Weitere Reklamationen zwecklos
Doch die Behörden nehmen die Sorgen der Leute offenbar noch immer nicht ganz ernst: Wie ist sonst zu erklären, dass die gesamte Rad-WM als eine einzige, gigantische Sause mitten im Stadtzentrum bewilligt wurde? Und warum profitiert kein Gewerbler im Kreis 3 oder in Altstetten von all der Wertschöpfung dieser Veranstaltung?
Es hätte möglich sein müssen, Last und Profit der Rad-WM besser auf das Stadtgebiet zu verteilen. Die Freude in den anderen Quartieren wäre sicherlich gross gewesen. Womöglich grösser als der Frust im Zentrum.
Für Änderungen im Plan ist es nun zu spät, weitere Reklamationen sind zwecklos. Hoffen wir, dass das Highlight des Zürcher Sportjahrs auch für die Anwohner zum Highlight wird. Wenn nicht, ist das mit einem gewissen Risiko verbunden: Denn dann hätten es weitere Events vom Kaliber einer Rad-WM in Zukunft umso schwerer.
Zürich sollte keine dauerhafte Festhütte sein und die Stadtverwaltung keine Erlebnisagentur.