Die Luft ist sauber, das Trinkwasser von höchster Qualität, die Strassen und Wälder sind müllfrei: Naturschutz ist in Finnland tief in der Lebensweise verankert. Das zeigt sich auch in der finnischen Gegenwartskunst.
Kunst in Finnland ist kaum ohne die umgebende Natur denkbar. Über 73 Prozent des Landes sind von Wäldern bedeckt – eine Landschaft, die sich tief ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben hat. Der Gegensatz zwischen Kultur und Natur scheint hier aufgehoben: Inmitten moosgrüner Weite, klarer Seen und weiter Stille entwickeln sich künstlerische Ausdrucksformen, die mit Mythen, Respekt und Zurückhaltung aufgeladen sind. In diesem Umfeld entstehen Performances, Installationen und Projekte, die das Schweigen, das Gemeinschaftliche und die Beziehung zur Umwelt ins Zentrum rücken – ohne laute Gesten.
Ein Beispiel dafür ist das «Silence Meal» der finnischen Künstlerin Nina Backman. In einem hohen Saal, golden erleuchtet durch einen Kronleuchter, ist eine lange Festtafel für 26 Personen gedeckt. Das Arrangement ist durchdacht: Tischdecke, Geschirr und Gläser stammen von Marimekko, dem berühmten finnischen Designhaus. Einzige Bedingung bei diesem Dinner: Es darf nicht gesprochen werden. Backman lädt ein zu einem Mahl, das in absoluter Stille eingenommen wird – eine Performance, bei der die Gäste zugleich Publikum und Teilnehmende sind. Sobald die Künstlerin Platz nimmt, beginnt das Schweigen.
Es folgen zwei Stunden nonverbaler Kommunikation. Gesten ersetzen Worte, Blicke werden länger gehalten, zum Glas wird häufiger gegriffen als bei einem gewöhnlichen Abendessen. Die Geräusche des Raumes gewinnen an Gewicht: das dezente Klirren von Gläsern, die Schritte der Kellnerinnen, das Brummen der Lüftungsanlage. Als die Vorspeise – hausgemachter Frischkäse mit grünem Spargel und frischen Kräutern – serviert wird, konzentriert sich alles auf Geschmack und Textur. «In der stillen Zweisamkeit mit dem Essen schmeckt alles intensiver, feiner», berichten Teilnehmer.
Später entstehen kleine Klangexperimente mit Besteck und Gläsern, Stühle werden verschoben, Plätze getauscht. Husten, Schnäuzen, zur Toilette gehen, Hauptsache, irgendetwas tun, Hauptsache, ein Geräusch verursachen. Eine Person macht Selfies. Niemand anderes im Raum hat das Handy bisher gezückt. Keine Nachrichten, keine Ablenkung. Auf einmal hat man Zeit. Mit sich, mit den eigenen Gedanken. Manche machen die Augen zu, als würden sie meditieren.
Blicke ohne Worte
Der Hauptgang – Zanderfilet in Champagnersauce mit Dill und Erbsen – wird wortlos genossen. Auch das Dessert, ein Sanddornparfait mit weisser Schokolade und Caramel, entfaltet seine Wirkung ohne kommentierende Stimmen. Sanddorn ist in Finnland, neben der Heidelbeere, eine kulinarische Spezialität – doppelt so reich an Vitamin C wie anderswo, sagt man. Am Ende der zwei Stunden ist das Bedürfnis, zu sprechen, gross, aber auch das Gefühl einer neu entstandenen Vertrautheit. Es ist, als kenne man sich schon ewig, obwohl zwei Stunden lang kein einziges Wort fiel.
Später verrät die Künstlerin, dass diese Gruppe sehr moderat gewesen sei. «Einmal hielt ein Mann es nicht mehr aus, stand auf, ging raus und schrie aus vollem Hals, nur um danach wieder reinzukommen und sich hinzusetzen, als sei nichts gewesen.» Und einmal, da hätten sich zwei Menschen während des «Silence Meal» ineinander verliebt, erzählt Backman. Blicke ohne Worte können wie Amors Pfeile mitten ins Herz treffen. Das Paar hat später geheiratet.
Der Ort dieser Performance – das Finnish Literature Society House – wurde von Nina Backman nicht zufällig gewählt. Hier wird nicht nur finnische Literatur archiviert, sondern auch das kulturelle Gedächtnis: Geschichten über Gefühle, Eigenheiten, Homosexualität, Skifahren, das Saunieren und das Schweigen. Es existiert ein ganzes Regal über das Schweigen. Eine Fähigkeit, die in Finnland geschätzt wird: lange gemeinsam schweigen zu können, ohne dass es unangenehm wirkt.
«Das ist mir erst aufgefallen, als ich längere Zeit im Ausland lebte», sagt Nina Backman, die einige Jahre in London verbrachte und heute in Berlin lebt. Ihr «Silence Project», das 2013 entstand, umfasst neben dem «Silence Meal» auch das Baumpflanzprojekt «A Million Trees to Finland». Reden spielt auch beim Pflanzen kaum eine Rolle. Das Graben eines Lochs raubt einem, je nach Beschaffenheit des Bodens, zumeist den Atem. Wer zu zweit oder zu dritt Bäume pflanzt, erfährt oft eine tiefere Form von Verbundenheit als im Gespräch. Der körperliche Einsatz, die gemeinsame Geste – sie lassen Nähe entstehen. Zugleich wird eine Beziehung zu dem Baum aufgebaut, den man mühsam gepflanzt hat.
Das Projekt beruft sich auf das «Jokamiehenoikeus», das sogenannte Jedermannsrecht: In Finnland darf sich jede und jeder frei in der Natur bewegen – auch Touristen. Beeren pflücken, Pilze sammeln, im Wald zelten: All das ist erlaubt, solange die Natur respektiert wird. «Du verhältst dich automatisch verantwortungsvoll, wenn du am Reichtum der Natur teilhaben darfst», so Backman. Kein Lärm, kein Müll, keine Störung von Tieren – das sind Selbstverständlichkeiten. Der Naturschutz ist tief in der Gesetzgebung verankert – und in der Lebensweise.
Sauna – heilige Tradition
Die Luft ist sauber, das Trinkwasser von höchster Qualität, die Strassen und Wälder sind müllfrei. Hinzu kommen ein kostenloses Bildungssystem – vom Kindergarten bis zur Universität, inklusive Lehrmaterialien und eines warmen Mittagessens – sowie ein solidarisches Sozialsystem. All das sind Gründe dafür, dass Finnland im «World Happiness Report» seit acht Jahren in Folge als das glücklichste Land der Welt gilt.
Im selben Gebäude wird auch das Kalevala bewahrt – das Nationalepos Finnlands. Elias Lönnrot stellte es im 19. Jahrhundert aus mündlich überlieferten Liedern, Runen und Volksdichtungen zusammen. Die Geschichten handeln von der Entstehung der Welt, von Naturgeistern, von Helden, deren Kräfte nicht im Kampf, sondern in Sangeskunst und Weisheit liegen. Das Kalevala, mit seinen über 22 000 Versen in 50 Gesängen, wurde in finnischer Sprache verfasst – ein damals radikaler Schritt, galt Finnisch doch lange Zeit als «Bauernsprache».
Das Epos entstand zu einer Zeit, in der sich Finnland als unabhängige Nation neu erfand, als autonom verwaltetes Grossfürstentum unter dem russischen Zaren wohlgemerkt. In einer Zeit nationaler Neuorientierung wurde das Kalevala zum identitätsstiftenden Fundament. Der finnische Nationalmusiker Jean Sibelius und der Nationalkünstler Akseli Gallen-Kallela schöpften daraus ihre wichtigsten Werke.
Finnlands Geschichte ist von Fremdherrschaften geprägt – 650 Jahre unter schwedischer, dann über ein Jahrhundert unter russischer Herrschaft. Die späte Unabhängigkeit 1917 verfestigte das nationale Bedürfnis nach Selbstverortung. Noch heute sind Finnisch und Schwedisch gleichberechtigte Amtssprachen. Der kulturelle Austausch bleibt eng. Als etwa die finnische Band KAJ kürzlich für Schweden beim Eurovision Song Contest antrat – mit einem Lied über das Saunieren –, war das nicht als Grenzüberschreitung, sondern als geteiltes Erbe zu verstehen. Die Mitglieder der Band gehören der schwedischsprachigen Minderheit Finnlands an.
In Finnland wurde die Sauna zwar nicht erfunden, aber als beinahe heilige Tradition gepflegt. «Sauna» ist das einzige finnische Wort, das es in den internationalen Sprachgebrauch geschafft hat, und bedeutet ursprünglich Schwitzgrube. In den alten Zeiten, bevor es Krankenhäuser gab, wurde in der Sauna geboren, geheilt und gestorben. Es war der einzige keimfreie Ort im Haus.
Alle gehen in die Sauna, begonnen wird schon im Babyalter. Rund 3,3 Millionen Saunen auf 5,6 Millionen Einwohner sprechen für sich. Es gibt sie überall: am See, in Wohnungen, Büros, im Parlament, auf dem Polizeirevier, in Bussen, in Museen und – der neueste Hype – in einer Bar mitten in Helsinki. Die Sauna ist seit 2020 sogar Unesco-Weltkulturerbe.
Mit der Sauna verbunden ist Sisu – eine finnische Tugend, die Durchhaltevermögen, Resilienz und innere Stärke meint. Ob in der Hitze der Sauna, der Kälte des Winters oder im politischen Alltag: Sisu hilft, Widrigkeiten standzuhalten. Auch die gegenwärtige Bedrohung durch Russland wird mit bemerkenswerter Ruhe aufgenommen. Das Vertrauen in die eigene Stärke ist gewachsen – historisch wie gesellschaftlich. Kriege hat Finnland in der Vergangenheit schon einige überstanden.
Kunst-Hub Helsinki
Auf Inseln vor Helsinki finden sich noch heute Überreste alter Verteidigungsanlagen – inzwischen kulturell umgenutzt. Auf Suomenlinna beispielsweise sind heute Künstlerateliers und Ausstellungsräume für Artists in Residence eingerichtet. Oder auf der Insel Vallisaari, die in diesem Jahr der Hauptstandort der Helsinki-Biennale war. Jahrzehntelang war Vallisaari militärisches Sperrgebiet und nicht öffentlich zugänglich. So konnte sich die Natur auf der Insel lange Zeit ungehindert entfalten und zu einem Hotspot der Biodiversität werden. Rund tausend Arten von Schmetterlingen und Motten wurden dort nachgewiesen.
Passend zum Ort war das Thema der Biennale: «Shelter», also Zuflucht, Schutz. Die Biennale hinterfragte unseren menschzentrierten Blickwinkel. Stattdessen rückten nichtmenschliche Akteure ins Zentrum – Pflanzen, Tiere, Pilze und Mineralien –, damit wir unser Verhältnis zur Natur neu überdenken. Das Wald-Alphabet der irischen Künstlerin Katie Holten beispielsweise lud den Menschen ein, die Pflanzen und Bäume im Wald genauer zu betrachten und ihre Sprache zu erlernen.
Ernesto Netos Installation «SaariBird» ähnelt einem gigantischen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln und ist ein Tribut an die reiche Vogelwelt auf der Insel. Als besonders eindrücklich bleibt das Werk der finnischen Künstlerin Sara Bjarland in Erinnerung: An der Felsküste lagen Delfinskulpturen, die aussahen wie zurückgelassene Plastik-Schwimmtiere – halb schlaff, in Bronze gegossen. Ein stiller, eindringlicher Kommentar auf den Plastikmüll, der den Meeresbewohnern ihren Lebensraum raubt.
Finnland investiert viel in seine Museen. Helsinki soll sich als internationaler Kunst-Hub etablieren, auf Augenhöhe mit Venedig oder Berlin, aber eben mit dem Alleinstellungsmerkmal, dass Kunst ohne Natur nicht zu denken ist. In Zeiten des Klimawandels ist der Schutz der Natur und der Biodiversität dringender denn je geworden. Auch deshalb macht die anfangs erwähnte Künstlerin Nina Backman ihr «Silence Project». Auf die Frage, warum ihr die Natur so wichtig sei, antwortet die Künstlerin: «Die Natur setzt Dinge wieder in die richtige Relation und erinnert dich daran, wie klein du eigentlich bist.»








