In den Skigebieten ist Hochsaison. Tausende Skifahrer sind unterwegs, die Skigebiete erwirtschaften Millionen. Damit das alles möglich ist, braucht es Fabrice Murith und Bärti Hegner.
Der Pistenpatrouilleur Fabrice Murith sitzt an der Bar im Drehrestaurant Allalin, zuoberst im Skigebiet von Saas-Fee im Oberwallis, auf 3500 Metern über Meer. Vor seiner Brust hängt ein Funkgerät, es ist kurz nach Mittag, und Murith sagt: «Nach meiner Erfahrung hat es heute noch zu wenig Unfälle gegeben.»
Murith ist 43 Jahre alt und arbeitet seit vier Jahren als Pistenpatrouilleur in Saas-Fee. Jetzt, an der Bar, sitzt er zum ersten Mal an diesem Tag länger als fünf Minuten. Vor ihm eine leere Espresso-Tasse. Muriths Augen stechen blau aus ihren Höhlen heraus, rundherum hat die Skibrille einen hellen Abdruck hinterlassen. Die Wangen schimmern rot-braun. Ein Gesicht, wie es Sonne und Wind im Hochgebirge zeichnen.
Murith sagt: «Manchmal geht es plötzlich einfach los mit den Unfällen. Dann kommen sie, einer nach dem anderen. Bam, bam, bam.»
Dann rauscht das Funkgerät an der Brust.
Murith neigt seinen Kopf leicht zur Seite, um besser zu verstehen. Es ist eine Unfallmeldung. Murith zieht seine Jacke an, geht los. Der Einsatz beginnt.
Für Murith und die Pistenpatrouilleure von Saas-Fee ist es der 163. Einsatz der Saison. An diesem Tag im Februar ist es nicht der erste. Und es wird auch nicht der letzte bleiben.
Der Job von Fabrice Murith ist unberechenbar. Plötzlich kommen die Unfälle, dann macht es «Bam, Bam, Bam».
In den Schweizer Skigebieten ist in diesen Tagen Hochsaison. Tausende Leute betreiben nun den Volkssport Skifahren und kurbeln die Wirtschaft an. Im Wintertourismus werden in der Schweiz jedes Jahr 5 Milliarden Franken erwirtschaftet. Allein die Bergbahngesellschaft von Saas-Fee erzielte im vergangenen Geschäftsjahr einen Umsatz von 29,4 Millionen Franken. Das ganze Dorf hängt vom Tourismus ab.
Damit der Betrieb in einem Skigebiet läuft, braucht es Patrouilleure und Pistenchefs. Leute, die am frühen Morgen entscheiden, ob das Skigebiet geschlossen bleibt. Die tagsüber Lawinen sprengen, Pisten öffnen, Druckverbände anlegen, Knochen richten, Leben retten. Leute wie Fabrice Murith. Und wie dessen Chef: Bärti Hegner.
3 Uhr 55: Saas-Fee schläft, die Maschine erwacht
Der Tag hat früh begonnen für Bärti Hegner. Es ist kurz vor 4 Uhr in der Nacht, Saas-Fee liegt noch im Bett, doch Hegner steht schon im Führerstand der Felskinn-Bahn am Dorfrand von Saas-Fee. Hegner ist der Pisten- und Rettungschef von Saas-Fee, er leitet ein Team von 18 Patrouilleuren.
Es ist stockfinster. Nur ein Bildschirm erhellt Hegners Gesichtszüge und seinen grauen Dreitagebart. Ein Scheinwerfer beleuchtet die Kabine der Felskinn-Bahn vor Hegners Fenster. In der Kabine warten die Chauffeure der Pistenfahrzeuge, die ins Skigebiet müssen. Hegner schaut aus dem Führerstand hinaus zur Kabine, dann auf den Bildschirm. Er drückt einen Knopf, die Kabine fährt los in die Nacht. Tagwacht im Wintertourismus.
Hegner mag diese Ruhe am Morgen. Er ist 56 Jahre alt, wuchs als Bauernbub in Schänis auf, im Kanton St. Gallen. Später wurde er selbst Landwirt. Seit zwanzig Wintern arbeitet er als Pistenpatrouilleur. Er hat nach und nach die obligatorischen Kurse absolviert. Darin werden die Patrouilleure medizinisch geschult, erlernen, wie sie Patienten transportieren, Pisten kontrollieren, Lawinen sprengen können.
Angefangen hat Hegner im Skigebiet Hoch-Ybrig. 2018 wurde er Rettungschef in Saas-Fee. Seit Hegners Kindheit ist es immer so: Der Wecker klingelt früh, und die Arbeit ist hart. Und so wird es auch heute sein.
Hegner erwartet 8000 Gäste im Skigebiet. Laut einer neuen Hochrechnung der Schweizerischen Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) verletzen sich jedes Jahr 63 000 Personen beim Ski- und Snowboardfahren. Die Unfälle häufen sich in bestimmten Perioden der Saison. Zum Beispiel jetzt, im Februar, während der Sportferien.
Hegner erinnert sich an besonders stressige Tage, es ist, als blieben sie haften in seinem Kopf. Vor einigen Jahren rückte sein Team in den Sportferien innerhalb von einer Stunde elf Mal aus. Es versorgte vier Skifahrer, die durch einen Zusammenprall schwer verletzt wurden. Vier Helikopter flogen an diesem Tag innert kurzer Zeit nach Saas-Fee.
Hegner sagt, er habe den spannendsten Beruf der Welt. «Aber manchmal, am Ende der Saison, wünscht man sich, dass die Strasse gesperrt wird und Saas-Fee für einen Tag zur Ruhe kommt.»
Hegner studiert jetzt die Wetterdaten auf seinem Laptop. Er vergleicht Niederschlagsmengen und die Beschaffenheit der Schneedecke in den Hängen unter den 14 Viertausendern von Saas-Fee. Anhand der Daten und mit all seiner Erfahrung muss Hegner jeden Tag entscheiden, ob das Skigebiet überhaupt öffnen kann. Oder ob es aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben muss. Für die Skifahrer, die noch in den Betten liegen, geht es um einen Tag im Schnee und die Ferienstimmung. Für die Bergbahnen Saas-Fee geht es um die 250 000 Franken, die der Skibetrieb pro Tag einbringt. Der Entscheid liegt bei Hegner.
6 Uhr 07: Über vierzig Sprengsätze für den Tag
Hegner fährt jetzt zu einem Bunker des Dorfes am Waldrand. Über Nacht hat es in den oberen Lagen Neuschnee gegeben, Hegner wird in einem Helikopter in die Wand fliegen müssen und die Lawinen aus der Distanz kontrolliert auslösen.
44 Sprengsätze bereitet Hegner vor. An Spitzentagen sind es über 100.
Im Bunker liegen hinter dicken Betontüren Hunderte Kilogramm Sprengstoff. Hegner öffnet die Türen wie einen Badezimmerschrank. Er nimmt gewobene Säcke und Zündschnüre aus den Kisten. Jeder Sack wiegt 5 Kilogramm, und jede Zündschnur verschafft Hegner später 90 Sekunden Zeit bis zur Detonation.
44 präparierte Sprengsätze liegen neben Hegner. Das seien eher wenig, sagt er. An Spitzentagen sind es manchmal über 100. Noch sind die Ladungen nicht scharf.
8 Uhr 03: Es riecht nach 1. August
Aus dem Talkessel von Saas-Fee steigt jetzt ein Helikopter auf. An Board sind Rettungschef Hegner und 44 Sprengsätze. Der Helikopter kreist zwischen dem Egginer-Gipfel und dem Felskinn auf 3000 Metern. Die Sonne bescheint schon die Gipfel der umliegenden Berge: Allalin, Castor, Pollux. Unten im Tal ist es noch Nacht. Der Helikopter schwebt dazwischen.
Rettungschef Hegner öffnet die Helikoptertür und wirft eine erste Ladung ab. Der Helikopter dreht ab, geht auf Entfernung und wartet auf die Detonation.
Erst steigt eine Schneewolke auf, dann durchbricht ein tiefes, dumpfes «Pooommm» die Idylle und prallt von den Bergen zurück. Über die Felsflanken rieselt Pulverschnee, wie wenn man am Ast einer Tanne rüttelt.
Hegner wirft an immer neuen Punkten Sprengladungen ab. Staubwolke, Knall, kleinere Lawinenabgänge und dann ein Geruch wie am 1. August.
Die Explosionen am Berg sind für die Patrouilleure im Skigebiet ein Startsignal: Sie können die ersten Pisten freigeben.
9 Uhr 04: Erfrierungen und Schnittwunden
Fabrice Murith, der Patrouilleur, belädt in einer Garage zuoberst im Skigebiet einen Skitöff. Neben ihm stehen Dutzende Skifahrer, die ungeduldig warten. Murith holt Blechschilder mit Warnhinweisen hervor, lädt sie auf den Töff und fährt los.
Bei einer Trasse hält er an, kontrolliert die Absperrungen und platziert ein Schild. Darauf steht: «Piste nicht verlassen: Gletscherspalten!» In vier Sprachen. Aber auch das hilft manchmal nicht.
Immer wieder müssen Murith und seine Kollegen Skifahrer bergen, die abseits der markierten Pisten in Gletscherspalten gestürzt sind. Einige Patrouilleure im Team mussten schon Leichen bergen.
Solche Einsätze besprechen Murith und seine Kollegen später miteinander. Manchmal gibt es psychologische Unterstützung. In der laufenden Saison hatten die Patrouilleure Glück. In Saas-Fee gab es bisher keine Todesfälle.
Unter der Schneedecke lauern Gletscherspalten. Murith stellt Warnschilder auf. Oftmals vergebens.
Wenn Murith im normalen Einsatz ist, muss er sich meistens um leichtere Verletzungen kümmern. Ein Knie richten oder Patienten mit offenen Brüchen oder tiefen Schnittwunden versorgen.
Murith steigt wieder auf den Skitöff und fährt hoch zur Rettungsstation. Dann sieht er, wie die ersten Skifahrer unter einer Absperrung durchschlüpfen und die markierte Piste verlassen. Murith schüttelt den Kopf, verwirft die linke Hand. Es ist immer dasselbe.
Bei der Rettungszentrale auf dem Mittelallalin, ganz oben im Skigebiet, trifft Murith auf Rettungschef Bärti Hegner. Hegner hat alle Sprengungen vorgenommen und wurde vom Helikopter abgesetzt. Er geht in die Wärme und holt sich einen Kaffee.
Hegner sagt: «Im Winter herrschen hier oben in Extremfällen Temperaturen von bis zu –30 Grad und Windstärken von über 80 km/h.» Für die Patrouilleure und die Verletzten, die diesen Bedingungen länger ausgesetzt sind, besteht die Gefahr von Erfrierungen. Hegner hat das alles selbst erlebt.
Seine Finger, Zehen und der Bereich unterhalb seiner Augen, alles hat sich weiss verfärbt. Hegner hatte Glück, sein Körper hat sich erholt. Doch er ist vorsichtiger geworden und ermahnt seine Mitarbeiter, sich zwischen den Einsätzen in den Rettungszentralen aufzuwärmen.
12 Uhr 56: Einsatz mit dem Rettungsschlitten
Patrouilleur Fabrice Murith hat das Drehrestaurant Allalin verlassen. Er ist unterwegs zum Einsatz. Über Funk hat er den Unfallort erfahren. 600 Höhenmeter tiefer, bei der Bergstation Morenia, liegt ein Mädchen. Es hat sich verletzt.
An der Unfallstelle stellt Murith seinen Rettungsschlitten ab. Neben dem Mädchen stehen der Vater und die Schwester. Murith muss innert kürzester Zeit beurteilen, wie gravierend die Verletzung ist und wie die Patientin abtransportiert werden kann. Ambulanzen und Helikopter sind in diesen Tagen gefragt im Tourismuskanton Wallis. Und vor allem: Sie werden für die Schwerverletzten gebraucht.
Das Mädchen hatte Glück. Es hat sich leicht an der Schulter verletzt. Murith sichert sie auf dem Schlitten, der wie eine orangefarbene Luftmatratze aussieht. Dann fährt Murith mit dem Mädchen zur Gondelbahn und von dort ins Tal.
Später wird der Vater des Mädchens fragen, ob er Murith zum Dank ein Trinkgeld geben könne. Murith lächelt und verneint. Er berührt den Vater sanft am Ellenbogen und winkt dem Mädchen zu. Dann richtet er den Rettungsschlitten wieder her und nimmt die Gondel nach oben.
Es ist jetzt Nachmittag. Die Sonne sinkt, die Gäste werden weniger. Das Ende eines langen Tages naht. Der Patrouilleur Fabrice Murith, der Pistenchef Bärti Hegner und die anderen Patrouilleure mussten zehnmal ausrücken. Nach 16 Uhr brechen sie zur letzten Pistenkontrolle auf. Eine letzte Fahrt ins Tal, ein letzter Blick an den Berg. Dann folgt die Nacht. Und alles geht von vorne los.