Als ehemaliger Minenarbeiter und Labour-Politiker steht Lee Anderson für die Bemühungen der Tory-Partei, im postindustriellen Nordengland Fuss zu fassen. Nun hat sich der kantige Konservative mit einem Angriff auf den muslimischen Bürgermeister Londons ins Abseits manövriert.
«Ich bin polarisierend, ich sage, was andere Leute nicht sagen können.» So beschrieb Lee Anderson im Herbst bei einem Auftritt am Rande der Parteikonferenz der Konservativen in Manchester seinen Politikstil. Vor wenigen Tagen machte der Unterhausabgeordnete seinem Ruf als rhetorischer Querschläger alle Ehre. Im rechten TV-Sender GB News sagte Anderson in Anspielung auf den muslimischen Labour-Bürgermeister Londons, Sadiq Kahn: «Die Islamisten kontrollieren Kahn und London. Kahn hat unsere Hauptstadt an seine Kumpel ausverkauft.»
Identitätspolitische Spannungen
Die Aussage fiel im Kontext der identitätspolitischen Spannungen rund um den Gaza-Krieg. Letzte Woche brachen im Parlament Tumulte aus. Demonstranten projizierten die Parole «From the river to the sea, Palestine will be free» ans Parlamentsgebäude, die gemäss britischer Rechtspraxis je nach Kontext als antisemitisch gilt. Die dem Londoner Bürgermeister und dem britischen Innenminister unterstellte, aber operationell unabhängige Metropolitan Police vertrat den Standpunkt, dass die Projektion als Teil einer grösseren Protestaktion nicht illegal sei.
Mit seinem Angriff auf Kahn erntete Anderson heftige Kritik von Labour, aber auch von zentristischen Konservativen, die sich von seiner verbalen Entgleisung distanzierten. Das konservative Magazin «Spectator» meinte, man müsse kein Fan von Kahn sein, um Andersons Aussagen als «völlig unhaltbar» zu disqualifizieren – zumal es nicht den geringsten Hinweis darauf gebe, dass sich der Londoner Bürgermeister in irgendwelcher Form von Islamisten beeinflussen lasse.
Andere Kommentatoren betonten, Kahn sei wegen seines muslimischen Glaubens in die Nähe von Extremisten gestellt worden; die Tories würden ähnliche Verschwörungstheorien bei einem jüdischen Politiker nicht dulden. Der Parteizentrale blieb nichts anderes übrig, als Andersons Fraktionsmitgliedschaft zu sistieren, zumal er auch am Montag noch eine Entschuldigung ablehnte und seine Wortwahl bloss «ungeschickt» nannte.
Rebellieren die «Red Wall»-Wähler?
Premierminister Rishi Sunak bezeichnete die Aussagen derweil als «falsch» und «inakzeptabel» und mahnte, gerade in Zeiten identitätspolitischer Spannungen gelte es die Worte mit Bedacht zu wählen. Er stellte aber in Abrede, dass die Tories ein Islamophobie-Problem hätten.
Während Labour immer wieder wegen antisemitischer Auswüchse in die Schlagzeilen gerät, sorgen bei den Tories islamophobe Tendenzen periodisch für Debatten. Vor vier Jahren entschuldigte sich der damalige Premierminister Boris Johnson offiziell für Islamophobie in der Partei und setzte eine Untersuchung ein, deren Empfehlungen nur schleppend umgesetzt wurden.
Für Sunak ist die Suspendierung Andersons ein herber politischer Schlag. Denn der 57-jährige Haudegen erreichte Wählerschichten, die sich der korrekte und filigrane Sunak nicht so leicht erschliessen kann. Anderson sollte aussprechen, was das einfache Volk denkt – so die Strategie mit Blick auf die wohl im Herbst stattfindende Unterhauswahl. So forderte er beispielsweise die Wiedereinführung der Todesstrafe. Dass er trotz den steigenden Lebenskosten behauptete, mit 30 Pence (35 Rappen) pro Tag lasse sich eine Mahlzeit zubereiten, trug ihm den Spitznamen «30p Lee» ein.
«There’s not this massive use for food banks in this country. We’ve got generation after generation who cannot cook properly… they cannot budget»
Conservative Lee Anderson invites MPs to «come to a real food bank» in his constituency of Ashfieldhttps://t.co/kPrVhc52I9 pic.twitter.com/JEnWIJcMhW
— BBC Politics (@BBCPolitics) May 11, 2022
Anderson stammt aus dem nordenglischen Wahlkreis Ashfield, den er im Unterhaus vertritt. In seiner Jugend arbeitete er wie sein Vater als Minenarbeiter und erlebte, wie die Kohleminen im Norden Englands unter der Ägide von Margareth Thatcher geschlossen wurden. «Wir hassten Thatcher und wählten ganz automatisch Labour», erzählte er beim Event in Manchester. Anderson verlor seinen Job, arbeitete als Reinigungskraft in einem Spital und avancierte zum Labour-Lokalpolitiker, bis er sich mit den «marxistischen Aktivisten» überwarf und zu den Tories überlief.
Dank seiner Arbeiter-Herkunft steht Anderson symbolhaft für die Bemühungen der Konservativen Partei, im postindustriellen Norden Englands Fuss zu fassen. Viele traditionelle Labour-Wähler aus der sogenannten «Red Wall» votierten 2016 in der Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung für den Brexit und stimmten 2019 erstmals für die von Boris Johnson geführten Konservativen. Da ihre künftige Neigung ungewiss ist, kommt Andersons Ausschluss zur Unzeit.
Der konservative «Daily Telegraph» berichtete am Montag bereits von einer drohenden Rebellion von «Red Wall»-Wählern als Reaktion auf Andersons Suspendierung. Der charismatische Politiker verfügt als Moderator beim Sender GB News über viel Einfluss im rechten Parteiflügel. Manche Konservative befürchten nun, Anderson könnte zur rechtspopulistischen Partei Reform UK überlaufen, die den Tories in den Umfragen von rechts das Wasser abgräbt. Reform-Gründer Nigel Farage fackelte nach dem Eklat nicht lange und ermunterte Anderson kurzerhand zum Parteiwechsel.