Psychiater warnen schon seit langem: Die Freigabe des Cannabisverkaufs wird zu einer Zunahme von Psychosen führen. Jetzt gibt es dafür handfeste Beweise.
Cannabis-Studie – vier Jahre lang, wir suchen Studienteilnehmer!, auf grossen gelben Plakaten wendet sich der Verein Cannabis Research an Mitbürger im Kanton Zürich, die gerne Drogen konsumieren. Gesucht werden 7500 Menschen in Stadt und Umgebung, die vier Jahre lang «für die Forschung Blüten, Haschisch, Vapes & Edibles» zu sich nehmen. 5000 von ihnen können sich das Rauschmittel kostenlos in einer von mehreren Ausgabestellen abholen. Die anderen müssen auf dem Schwarzmarkt fündig werden.
Durch ihre Studie wollen die Wissenschafter herausfinden, wie sich eine Cannabis-Legalisierung in der Schweiz sozialökonomisch, beispielsweise auf die Arbeitslosenraten und Bildungsabschlüsse auswirken würde, erklärt Andreas Beerli vom Departement Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich. Er ist einer der Organisatoren der Studie. In Bern, Biel und Luzern wollen Wissenschafter gleichzeitig herauszufinden, wie sich ein solcher «regulierter Cannabisverkauf» auf den Drogengebrauch auswirkt. In Genf, ob regulierte Kiffer vernünftiger konsumieren.
Insgesamt sieben solcher Pilotversuche gibt es, mit denen die Schweiz versucht, sich für eine Cannabis-Legalisierung zu präparieren. Die Teenager im Land sind Europameister im Kiffen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist sich einig: Es muss etwas passieren. Cannabis sollte legal werden.
Deutschland ist schon einen Schritt weiter. Im vergangenen April wurde erlaubt, die Droge in Anbauvereinen oder Clubs zu erwerben. Unter lautem Protest der Psychiater: Eine Legalisierung könnte für die Psyche der Jugendlichen gefährlich werden, warnten die.
«Dass der Konsum von Cannabis Psychosen auslösen kann, ist völlig unbestritten», sagt die Psychiaterin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Leiterin der LVR-Klinik in Köln. Dass die Deutschen trotzdem legalisieren, hat mit einem Argument der Befürworter zu tun: Aus dieser Tatsache lasse sich nicht unbedingt herleiten, dass eine Freigabe zu mehr psychisch kranken Jugendlichen führt. Besonders zu solchen, die neben Wahnvorstellungen und Halluzinationen Mühe haben, in ihre Gedanken noch in irgendeine Ordnung zu bringen. Alles Symptome, die besonders Psychosekranke kennzeichnen.
Der Grund: Zum einen sei nach aktuellem Wissensstand nicht jeder gefährdet, durch das Kiffen den Verstand zu verlieren, argumentieren die Befürworter. Gefährdet seien vor allem diejenigen, die schon eine gewisse genetische Veranlagung dafür mitbringen. Oder Menschen, die beispielsweise durch Traumata in ihrer Jugend ohnehin psychisch verletzt sind. «Solche verwundbaren Personen können durch den Cannabiskonsum quasi über die Schwelle zur Krankheit gehoben werden», erklärt Gouzoulis-Mayfrank. Die Droge lässt das angegriffene Gehirn endgültig kollabieren.
Das zweite Argument der Pro-Legalisierungs-Fraktion: Die Wahrscheinlichkeit einer Cannabis-Psychose sei nicht nur eine Frage, ob jemand überhaupt konsumiert. Es gäbe noch andere entscheidende Faktoren. Beispielsweise: Wie früh hat der Jugendlich begonnen zu kiffen? Wie viel Gramm raucht er? Und wie hoch ist die Wirkstoff-Konzentration, die THC-Dosis, im Kraut? Schliesslich würde eine Legalisierung genau solchen Risikofaktoren – früher Konsumbeginn, hohe Dosen und sehr potente Drogen – durch die kontrollierte Abgabe entgegenwirken. Deshalb sei durch die Freigabe gerade keine Zunahme der Psychosen zu befürchten.
Bis Mitte dieser Woche lautete der Stand der Diskussion: Unentschieden. Trotz des Vorpreschens des deutschen Gesetzgebers. Denn es gab Studien, die sowohl in die eine wie in die andere Richtung deuteten. Die einmal für, einmal gegen einen Anstieg der Krankheitszahlen sprachen.
Seit Mitte dieser Woche hat sich das geändert, sagt Rainer Thomasius, der Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Denn am Dienstag wurde von Wissenschaftlern des kanadischen Ottawa Hospital Research Institutes in der Fachzeitung Jama Network Open eine neue Studie zum Thema präsentiert. Sie berichten darin über das Ergebnis ihrer Auswertung von Gesundheitsdaten von fast 14 Millionen Menschen aus den Jahren 2006 bis 2022. Alles Einwohner der Provinz Ontario, dort hat man Cannabis bereits vor sieben Jahren legalisiert. Schon drei Jahre zuvor hatte man in Ontario damit begonnen, bei Cannabiskonsum oder -verkauf beide Augen zuzudrücken.
Seit der Freigabe, berichten sie, hat sich die Zahl der neu diagnostizierten Psychosekranken in der Provinz fast verdoppelt. Und: Unter den Cannabisusern hatten knapp 15-mal mehr Personen eine Schizophrenie entwickelt als der Durchschnitt der Bevölkerung. Eine Schizophrenie ist eine besonders schwere und langwierige psychotische Erkrankung.
2019 hatten Wissenschaftler bereits in der Fachzeitung Lancet ausgerechnet: Wer täglich den THC-Rausch anstrebt, erkrankt rund dreimal wahrscheinlicher an einer Psychose als eine abstinente Person. Konsumiert er zudem besonders THC-haltige Drogen, steigt das Risiko sogar auf das Fünffache. Rund 20 Prozent aller Psychosefälle liessen sich vermeiden, wenn der Cannabisverkauf vollständig unterbunden würde, lautete ein weiteres Ergebnis. In Grossstädten wie London sogar 30 Prozent.
Ein weiteres Ergebnis der kanadischen Studie. Nach der Legalisierung wurde tatsächlich deutlich mehr Cannabis konsumiert. Im Vergleich zu den Jahren zuvor hatte sich Zahl der Menschen, die im Rausch eine Notfallambulanz aufsuchten, fast verfünffacht. Die Forscher hatten auf Basis solcher Klinikbesuche die Gesamtzahl der Drogenkonsumenten kalkuliert.
Auch das deckt sich mit älteren Daten: So hatten beispielsweise bereits 2014 Wissenschaftler im US-Bundesstaat Colorado ermittelt, dass eine Freigabe 12-17-Jährige geradezu zum Kiffen animiert. In Colorado hat man bereits vor 16 Jahren Cannabis legalisiert. Verglichen mit dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen in den restriktiveren Nachbarstaaten konsumierten dort 39 Prozent mehr Jugendliche.
Teenager und Jugendliche gelten als besonders durch die Droge gefährdet. Der Grund: Ihr sogenanntes Cannabinoid-System im Gehirn, in dem die Nervenzellen mit körpereigenen, cannabisähnlichen Substanzen kommunizieren, ist noch nicht ausgereift. Wird dieses System dann auch noch durch Wirkstoff von aussen überschwemmt, ist es völlig überfordert. Und stört dann wiederum andere Systeme, mit denen es verschaltet ist. Darunter das System mit dem Botenstoff Dopamin. Und dem wird wiederum eine entscheidende Rolle bei Psychosen und Schizophrenien zugeschrieben. Jenseits der Altersgrenze von 30 ist das System ausgereift und viel stabiler.
«Die neue kanadische Studie bestärkt mich weiter in meiner Position, mich gegen eine Cannabis-Legalisierung auszusprechen», die Psychiaterin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank teilt die Einschätzung ihres Kollegen Thomasius. Für sie ist die Arbeit ein wichtiger Puzzlestein in der Beweiskette, durch den das Bild immer deutlicher wird: Je mehr Teenager und Jugendliche kiffen, weil sie durch die Legalisierung Cannabis leichter kaufen können, desto mehr verwundbare Teenager und Jugendliche werden die Droge konsumieren. Und dann auch manchmal psychisch krank werden. Hinzu kommt: Gerade Menschen mit psychischen Problemen sind besonders eifrige Kiffer.
In Zürich bei Cannabis Research hält man es trotz der neuen Beweislage für verfrüht, dass Projekt Cannabis-Legalisierung in der Schweiz für beendet zu erklären. «Ich bin auch nach dieser Studie nicht überzeugt, dass eine Freigabe unweigerlich zu mehr Psychoseerkrankungen führen würde», sagt Andreas Beerli von Cannabis Research. Denn für ihn hat die Studie eine entscheidende Schwäche: Sie wertet im Rückblick nur aus, was nach einer entscheidenden Veränderung, der Legalisierung, in der Realität passiert. Aber Forscher wissen, die Ergebnisse solcher Studien können noch von vielen anderen Veränderungen und Faktoren beeinflusst werden. Beispielsweise, weil die User nach der Legalisierung plötzlich beginnen, zusätzlich andere Drogen zu konsumieren. Beerli würde nur eine Studie gelten lassen, sagt er, die höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt: Mit zwei Gruppen von Versuchspersonen, die einmal unter Legalisierungs-Bedingungen und einmal auf dem Schwarzmarkt ihr Cannabis organisieren. Er muss aber zugeben: Eine solche Studie wird aus ethischen Gründen nie durchgeführt werden. Man darf als Wissenschaftler Versuchspersonen nicht geplant schweren psychischen Risiken aussetzen. Wann reicht die Beweiskette? Müssen erst noch weitere, beispielsweise noch längere Studien vorgelegt werden? Solche Fragen müssen letztendlich politisch beantwortet werden.