Bald soll an Zürcher Schulen niemand mehr ohne Lehrdiplom unterrichten – ausser bei den schwierigsten Schülern.
«Lehrermangel, Alarm!» So tönt es in Zürich seit Jahren – immer dann, wenn die Anzahl offener Stellen für das nächste Schuljahr bekanntwird. Die Schulen ächzen, der Kanton spricht von einer Notlage, und keine Besserung ist in Sicht.
Bis jetzt.
Jetzt sagt Myriam Ziegler, die Leiterin des Zürcher Volksschulamts: «Wir sehen tatsächlich einen Silberstreifen. Die Situation hat sich etwas entspannt.»
Zwar sind momentan noch 600 Lehrerstellen für das nächste Schuljahr unbesetzt. In den vergangenen Jahren waren es zum selben Zeitpunkt aber deutlich mehr: zwischen 700 und 800.
Für die Zürcher Schulen heisst das: endlich Aussicht auf etwas mehr Normalität, nach drei Jahren im kompletten Ausnahmezustand. Drei Jahren, in denen dermassen viele Lehrer fehlten, dass Hunderte Personen ohne Lehrdiplom – genannt «Poldi» – einspringen mussten.
Diese Entspannung, sie ist eine mit Ansage. Das zeigt ein Blick auf die Grafik, die seit Jahren Bericht um Bericht über den Lehrermangel begleitet. Wie ein bedrohlicher Berggipfel türmt sich darauf die Anzahl offener Stellen ein halbes Jahr vor Schulbeginn in die Höhe, um dann, je näher der erste Schultag rückt, wieder zu sinken.
In dieser Zeit lassen die Zürcher Schulleiterinnen und Schulleiter nichts unversucht, um den Berg zu bezwingen: Sie werben Lehrpersonen ab, holen Kollegen aus der Pension, machen anderen eine Erhöhung des Pensums schmackhaft und stellen im Notfall Personen ohne Diplom an.
All das wird auch dieses Jahr geschehen. Ein Beispiel unter vielen: In der Schule Lindenhof in Bülach sind derzeit zehn Stellen ausgeschrieben, rund ein Siebtel des Lehr-Kollegiums.
Doch verglichen mit den letzten Jahren ist der Berg an leeren Stellen kleiner. Seit 2022 – als der Lehrermangel einen Höchststand erreichte – ist er mit jedem Jahr wieder etwas gesunken.
Momentan fehlen den Zürcher Schulen ein Viertel weniger Lehrpersonen als damals. Die Stellensituation ähnelt damit wieder der im Jahr 2021. «Der Lehrermangel ist immer noch vorhanden», sagt Amtsleiterin Ziegler. «Aber der Trend geht klar in die richtige Richtung.»
Das Ende der «Poldi»
Die Bildungsdirektion macht darum eine Ansage, die Schulen und Eltern aufhorchen lässt: Einmal noch soll für das Schuljahr 2025/2026 der Notstand ausgerufen und der Einsatz von Lehrern ohne Diplom zugelassen werden. Aber ab Sommer 2026 soll damit Schluss sein.
Das heisst: Die Tage der Poldi, der Personen ohne Lehrdiplom, sind gezählt. Nach bald drei Jahren wird dieser bildungspolitische Sonderfall in absehbarer Zeit enden. Was heisst das für die 600 bis 700 Aushilfslehrer, die in den vergangenen Jahren die Lücke füllten?
«Wir haben immer klargemacht: Wer langfristig in diesem Beruf bleiben will, muss sich in Richtung Ausbildung bewegen», sagt Ziegler dazu. Möglichkeiten dafür gebe es viele: Teilzeitstudium, Quereinsteiger-Angebote und seit Neuerem auch eine Aufnahme «sur dossier» für geeignete Kandidierende ohne die nötigen Abschlüsse.
Doch die rund 600 bis 700 Lehrpersonen ohne Diplom bewegen sich bisher noch nicht in Scharen Richtung Ausbildung. Kein Wunder: Der Verdienst ist gut, er liegt bei 80 Prozent eines regulären Lehrerlohns. Da ist es wenig attraktiv, das Pensum für ein Studium zu reduzieren.
Lena Fleisch, die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ZLV), fordert deshalb: «Es muss gelingen, bis nächstes Jahr so viele Poldi wie möglich in das Bildungssystem zu integrieren.» Sonst werde sich die Notlage in absehbarer Zeit wieder einstellen.
Anders als der Kanton beurteilt Fleisch die Situation keineswegs als entspannt, von einem «Silberstreifen» könne keine Rede sein. «Nichts hat sich geändert», sagt sie. «Es fehlen immer noch jedes Jahr Hunderte Lehrpersonen, vor allem auch solche, die als Klassenlehrerin Verantwortung übernehmen.»
Dass die Anzahl offener Stellen wieder auf das Niveau von 2021 gesunken ist, beruhigt die Lehrervertreterin nicht. «Auch damals war der Mangel schon akut.»
Statt verfrühter Erfolgsmeldungen brauche es nun etwas anderes: «Der Beruf muss attraktiver werden.» Konkret fordert der ZLV, dass Lehrpersonen für jede Lektion mehr Vor- und Nachbereitungszeit erhalten. Und dass Klassenlehrerinnen mehr Ressourcen für ihre Zusatzaufgaben erhalten.
«Mehr Geld löst das Problem nicht»
Die zuständige Kommission des Zürcher Kantonsparlaments diskutiert aktuell eine Vorlage, die genau diese Forderungen aufnimmt. Sie geht den Unterrichtenden aber zu wenig weit.
«Es kann nicht sein, dass Lehrerin um Lehrerin ihr Pensum reduziert, nur um halbwegs mit der Arbeit nachzukommen», sagt Fleisch. Sie ist überzeugt: Wären ihre Arbeitsbedingungen der Lehrpersonen besser, würden diese auch mit höheren Pensen arbeiten. Und der Lehrermangel wäre bald Geschichte.
Mit dieser Sichtweise kann wiederum Myriam Ziegler vom Volksschulamt nicht viel anfangen. «Wir habend die Erfahrung gemacht, dass mehr Geld das Problem nicht löst», sagt sie. So habe man etwa festgestellt, dass mehr Ferientage oder höhere Löhne nicht zu einer Erhöhung der Pensen führten. Müssten Lehrpersonen für den gleichen Lohn weniger Lektionen bestreiten, werde dies deshalb kaum einen Anreiz setzen, mehr zu arbeiten.
Für Ziegler ist die Entspannung beim Lehrermangel alles andere als ein vorübergehendes Phänomen. Denn: Die Schülerzahlen wachsen laut Kanton immer weniger stark, im Kindergarten sinken sie gar. Dazu komme die wirtschaftlich unsichere Lage, die den verlässlichen Lehrerberuf wieder attraktiver mache. Beides werde langfristig zu einer weniger angespannten Stellensituation führen.
Alles gut also? Nicht ganz. In einem Bereich, darin sind sich Ziegler und Fleisch einig, wird der Lehrermangel noch auf Jahre hinaus bestehen.
Es geht um die Heilpädagogik, wo nur rund die Hälfte der Unterrichtenden auch über die entsprechende Ausbildung verfügt. Dies gemäss einer Auswertung des Kantons von 2023. Man habe in der Heilpädagogik mehr Studienplätze geschaffen und das Studium selbst flexibilisiert, sagt Ziegler. Etwas anderes könne man nicht tun. «Der Bedarf ist aktuell schlicht grösser als die Anzahl Lehrkräfte, die wir ausbilden können.»
Auch ZLV-Präsidentin Fleisch hat für den Heilpädagogen-Mangel keine Lösung parat. Sie erteile selbst entsprechenden Förderunterricht, ohne über die nötige Weiterbildung zu verfügen – «weil es schlicht viel zu wenig Fachkräfte gibt».
Ein bisschen wird der Lehrermangel den Zürcher Schulen also doch erhalten bleiben. Und zwar ausgerechnet dort, wo sie ihn am wenigsten gebrauchen können: bei den schwierigsten Schülerinnen und Schülern.