Wenn der Trainer Viktor Röthlin seinen Athleten begleitet, braucht er ein E-Bike. An den Leichtathletik-EM in Rom soll Kyburz Erfahrungen sammeln, doch es lockt auch eine Team-Medaille im Halbmarathon.
Achtung, fertig, Weltklasse. Es wirkte, als sei ein Talent vom Himmel gefallen, als Matthias Kyburz Anfang April seinen ersten Marathon in 2:07:44 lief und sich für die Olympischen Spiele qualifizierte. Matthias Who? Die Medien stürzten sich auf ihn und erzählten dieses Marathon-Märchen in allen denkbaren Versionen. Nie zuvor sei er derart im Fokus der Öffentlichkeit gestanden, sagt Kyburz. Dabei ist er achtfacher Weltmeister im Orientierungslauf.
Das erzählt viel über die Wahrnehmung von Sportarten. OL gilt immer noch als Randsportart, obwohl die Schweiz hier so viele internationale Champions hervorbringt wie sonst vielleicht nur noch im Skifahren. Und obwohl auch OL den Athletinnen und Athleten sehr viel abverlangt. Kyburz sagt, er habe für den OL gleich viel Zeit ins Lauftraining investiert wie in den ersten Monaten dieses Jahres in den Marathon.
Mit Röthlin geht Kyburz volles Risiko
Doch diese Monate haben ihn zum Strassenläufer gemacht. Nie zuvor war ein Schweizer beim Marathon-Debüt so schnell wie Kyburz, und überhaupt nur zwei Landsleute waren je schneller: Tadesse Abraham, der mit 2:05:01 den Landesrekord hält, und Viktor Röthlin, der 2012 mit 2:07:23 in die Weltklasse stürmte. Nun ist Kyburz also ein Leichtathlet. Am Sonntag wird er an den EM in Rom zum Halbmarathon antreten.
Am Anfang war alles nur ein Abenteuer. Das Jahr 2024 ist im OL ein Zwischenjahr ohne die ganz grossen Titelkämpfe, und Kyburz wollte schon länger wissen, wozu er in einem reinen Laufwettkampf fähig sei. Er nahm zwar immer mal wieder aus dem Training heraus an Strassen- oder Crossläufen teil, aber sich spezifisch darauf vorzubereiten, ist etwas anderes. Ausserdem hatte ihm sein Sportarzt schon vor zehn Jahren gesagt, dass die Werte bei den Leistungstests mit Blick auf einen Marathon vielversprechend seien.
Über einen Bekannten kam um den Jahreswechsel der Kontakt zu Viktor Röthlin zustande. Der war bereit, in die Rolle des Trainers zu schlüpfen, und sagte: «Gehen wir all in!» Das bedeutete in diesem Fall, Kyburz mit vielen Kilometern auf der Landstrasse an den Asphalt zu gewöhnen. Die Zeit war knapp, ein gewisses Risiko vorhanden. «Es hätte auch mit einem Ermüdungsbruch enden können», sagt Röthlin.
Aber der Europameister von 2010 war auch von Anfang an überzeugt, dass für einen Athleten wie Kyburz mehr möglich sei als bloss ein Marathon in einer anständigen Zeit. Der Sportarzt von Kyburz betreute früher auch Röthlin, er kann die Tests der beiden auf dem Laufband vergleichen. Kyburz hat ideale Voraussetzungen, um eine hohe Pace lange halten zu können. «Und», sagt Röthlin, «er hat einen maximalen Speed-Wert, den ich nie hatte.»
Der 34-Jährige habe alles, um der beste Marathonläufer der Schweiz zu werden. Allerdings würde er zwei bis drei Jahre brauchen, um sein Potenzial voll auszuschöpfen. Ob er dazu bereit ist, wird erst am Ende dieser Saison diskutiert. Kyburz ist weiterhin mit ganzem Herzen Orientierungsläufer, ihm fehlt noch der WM-Titel auf der Langdistanz. Die Frage wird sein, ob er diesen 2025 konsequent anstreben und trotzdem das Projekt Marathon vorantreiben kann.
Die beiden Sportarten parallel auf höchstem Niveau zu betreiben, scheint durchaus möglich, wie die noch kurze Marathon-Geschichte von Kyburz zeigt. «Sein OL-Trainer Daniel Klauser hat seit Jahren einen super Job gemacht», sagt Röthlin. Der frühere Marathonläufer hat bis zu den Olympischen Spielen im Training zwar den Lead übernommen, er tauscht sich aber regelmässig auch mit Klauser aus. Im Trainingsplan von Kyburz gibt es auch weiterhin Einheiten, die der Athlet im Wald absolvieren kann. «Denn das darf man ihm nicht nehmen», sagt Röthlin.
Longruns als grosse Herausforderung
Trotzdem gibt es massive Umstellungen im Training. Früher lief Kyburz 110 bis 120 Kilometer pro Woche und dazu 3000 bis 5000 Höhenmeter. Dafür brauchte er gleich viele Trainingsstunden wie im Frühling für 190 Kilometer auf flachen Strassen. «Die grösste Herausforderung waren die Longruns», sagt er.
Anderthalb Stunden am Stück zu rennen, ist für ihn nichts Spezielles. «Aber als erstmals 38 Kilometer auf meinem Plan standen, schaffte ich es am Ende kaum nach Hause.» Der Körper braucht Zeit, sich an intensive Belastungen über solche Distanzen zu gewöhnen. «Das war tough. Es heisst, man komme in den Flow, erlebe das Runner’s High. Aber wenn du schon 30 Kilometer in den Beinen hast, ist es hart, es ist ein Leiden.»
Jetzt hat Kyburz bei den Longruns immer Velobegleitung. Auch Röthlin war schon dabei. Beim ersten Mal benutzte er sein normales Velo, aber als es zum Schluss auf den Gurten hoch ging, nahm ihm der Läufer 700 Meter ab, und der Trainer war am Ende völlig ausser Puste. Seither mietet er ein E-Bike.
Dass Kyburz in einem Longrun auf den Gurten spurtete, ist für einen Marathonläufer ungewöhnlich. Es ist der Vorbereitung auf ein sehr spezielles Rennen geschuldet. Denn die Strecke an den Sommerspielen in Paris weist insgesamt 438 Höhenmeter, zwei deftige Steigungen und eine lange Abwärtspassage mit bis zu 15 Prozent Gefälle auf. Letztere endet, wo Läufer im Marathon normalerweise den Knackpunkt situieren: nach 32 Kilometern.
«Entscheidend wird sein, dass ich danach in der Fläche noch schnell sein kann», sagt Kyburz. Deshalb wurde das Training im Vergleich zum Frühlingsmarathon deutlich angepasst. Der Läufer trainiert in Steigungen, damit sich die Muskulatur an die Belastung gewöhnt.
An seinem Wohnort Belp wird er auch regelmässig getestet: Er läuft auf einer langen Strecke zuerst flach, dann aufwärts, abwärts und zum Schluss wieder flach. Dabei werden Puls- und Lactatwerte gemessen. Ziel ist es, zusammen mit dem Sportarzt möglichst genau herauszufinden, wie schnell er in welcher Steigung laufen kann, ohne dass er gegen eine Wand rennt. Kyburz ist aber auch überzeugt, dass ihm die coupierte Strecke eher entgegenkommt, weil er als Orientierungsläufer stets in hügeligem Gelände trainiert hat.
Mit seinem Trainer Röthlin ist er ständig in Kontakt, mehrmals pro Woche tauschen sie sich aus. «Zudem führt Matthias ein sehr genaues Trainingstagebuch, in dem er auch das Gefühl beim Laufen festhält. Das schaue ich mir täglich an», sagt der Trainer. Diese Notizen bilden die Basis für den Austausch, wenn möglich ist Röthlin einmal pro Woche im Training dabei. Es sei wichtig, den Athleten zu sehen. «Denn Matthias ist alles andere als ein Jammeri, was ich grundsätzlich sehr schätze, aber manchmal die Feinanpassungen im Trainingsplan nicht einfacher macht.»
Der Fokus der beiden liegt ganz auf den Olympischen Spielen. Auch der EM-Start im Halbmarathon ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Kyburz hat noch nie an einem Grossanlass in der Leichtathletik teilgenommen, er soll sich an Abläufe und ein Umfeld gewöhnen, die anders sind als im OL. Dass im besten Fall eine Medaille in der Teamwertung winkt, gab vielleicht den letzten Ausschlag dafür, sich für die Leichtathletik und gegen einen Einsatz in einer OL-Staffel zu entscheiden.