Frühling in Leipzig bedeutet: Buchmesse. In diesem Jahr versuchten Pro-Palästina-Aktivisten immer wieder, das Publikum zu instrumentalisieren. Auch Kanzler Scholz und Bundespräsident Steinmeier hatten Mühe, dagegen anzukommen.
In sattem Rosa, Blau oder Lindgrün prangen die Buchstaben auf dem Weg zur Leipziger Messehalle. Sie sind Schlachtruf, Vorwurf und Aufruf zugleich. In der Nacht hingesprayt, setzen sie den Ton für die kommenden Buchmesse-Tage: «Long Live Gaza» und «Stoppt den Genozid».
Dabei sollte es in diesem 35. Jahr nach dem Mauerfall eigentlich um Versöhnung gehen. Um Verständnis auch in Zeiten der grossen Krisen und Kriege. Und darum, unter Beweis zu stellen, dass die Literaturbranche mitten in der Modernisierung steckt.
«Hör auf zu brüllen!»
Was im Dunkel der Nacht auf den Boden gesprayt wurde, ist davor auch im festlich beleuchteten Gewandhaus laut geworden. «Sie haben Blut an Ihren Händen», schreit eine Frau aus dem Publikum. Auch die Wörter «Genozid» und «Waffenlieferungen» sind zu hören. Aber nicht allzu gut, Bundeskanzler Olaf Scholz, dessen Eröffnungsrede die Rufe unterbrechen, spricht nämlich einfach lauter.
Zuhören steht nicht auf Scholz’ Programm. Es wäre auch kein konstruktiver Dialog geworden, das wird ob dem Stakkato der immer gleichen Rufe schnell klar. Irgendwann hat der Kanzler genug: «Hör auf zu brüllen, Schluss!», ruft er der Aktivistin zu. Dann, etwas gefasster: «Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen, nicht die Macht des Geschreis.»
Als die eine Zwischenruferin aus dem Saal entfernt wird, übernimmt die Nächste, dann der Nächste; eine gut organisierte Schrei-Stafette, auf die das Publikum mit Buhrufen reagiert. Auch, weil an diesem Eröffnungsabend traditionell der Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen wird. Er geht im 30. Jahr seines Bestehens an den deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm. Damit greifen die Protestierenden auch einen Menschen an, der stets von «meinen palästinensischen Freunden» spricht. Freunde, die wissen, «dass jeder, der das, was mein Land in Gaza tut, ‹Selbstverteidigung› nennt, meine Identität zutiefst beschämt».
Boehm redet dann auch nicht nur über sein Buch «Radikaler Universalismus», das unter anderem die Gefahr identitärer Verhärtung von links bis rechts thematisiert, sondern spricht die Protestierenden direkt an: «Sie haben einen grossen Fehler gemacht: Sie wollten etwas sagen, indem Sie die öffentliche Rede gestört haben.» Elementar aber sei das Zuhören.
Alles so schön neu
Auf die abendliche Vergabe des wichtigsten Preises folgen am ersten Messetag drei weitere. Unter der gläsernen Kuppel des Messe-Zentrumsbaus wird damit ostentativ gezeigt, wie offen man gegenüber Neuem ist. Denn bereits die Shortlists warteten mit unbekannten Namen auf, die Wahl der Gewinner überrascht schliesslich viele – allen voran die Gewinner selbst.
Der Belletristikpreis geht nicht an einen Roman, sondern an ein «Lustiges Taschenbuch», das es derzeit allerdings erst zwischen festen Buchdeckeln gibt: Barbi Marković erzählt in «Minihorror» in vielen Einzelgeschichten von Mini und Miki, die irgendwie Mäuse von Disney und gleichzeitig Ausländer in Österreich sind. Ihre Dankesrede liest Marković vom Smartphone ab – sie habe sie innerhalb von zehn Minuten in der Kantine geschrieben. Denn sie hätte nicht gedacht, dass sie sie brauchen würde.
Ki-Hyang Lee weint Tränen der Rührung, als sie den Preis für ihre Übersetzung erhält. Sie hat «Der Fluch des Hasen», eine ins Phantastische fliessende Geschichte von Bora Chung, aus dem Koreanischen übersetzt. Zu einer späteren Gelegenheit sollte sie bei einem Gespräch etwas sagen, was man über die deutsche Sprache selten hört: «Deutsch», sie macht eine Pause, lächelt, «diese Sprache ist einfach unglaublich schön. Der Klang, so schön.»
Und schliesslich der Kunsthistoriker Tom Holert, der völlig überrumpelt wirkt, als er mit «ca. 1972: Gewalt – Umwelt – Identität – Methode» den Sachbuchpreis gewinnt. Er habe keine Rede vorbereitet, sagt er – wer hätte auch damit rechnen können, dass ein so nischiges Buch wie seines gewinnen würde?
Es scheint, als hätte man mit der überraschenden Wahl der Preisträger noch unterstreichen wollen, dass das hier eine andere Messe ist, eine jüngere, aufgeschlossenere als etwa in Frankfurt.
«Die Wampe ist echt»
Wenn die Frankfurter Buchmesse, die jeweils im Herbst stattfindet, wie ein gut sortierter, hochprofessionell geführter Buchladen anmutet, dann ist die Leipziger Buchmesse die Gemischtwarenabteilung zwischen Eingang und Kasse. Das liegt auch an der über zwei Hallen verteilten Manga- und Comic-Convention, die anmutet, als fände ein K-Pop-Konzert auf einem Mittelaltermarkt statt.
Mangas sind japanische Comics, und auch Cosplay kommt aus Japan – man verkleidet sich dabei wie der liebste Comic-, Computerspiel- oder Seriencharakter. Rund ein Drittel aller Messebesucher der Comic-Con kommen im Cosplay: Engel kämpfen sich mit üppig gefiederten Flügeln durch die Gänge, eine Gruppe japanischer Konkubinen in seidenen Gewändern lässt sich von einem Ritter mit Plastikschwert an der Hüfte fotografieren.
Mädchen in britischen Schuluniformen, Prinzessinnen und Teufel stehen an den aufgestellten Bildschirmen und testen die neusten Games. Video- und Computerspiele haben zwar keine Buchdeckel, Geschichten erzählen sie aber ebenfalls. Von phantastischen Welten und geheimen Aufträgen, von wachsenden Reichen und erbitterten Kämpfen.
«Sie war bereit, in seinen starken Armen dahinzuschmelzen» – durch das Dauersummen der Messe hört man von einem nahen Stand Teile einer Lesung, die besonders bei Elfen und Prinzessinnen beliebt scheint. «Romantasy» nennen Fans das Genre, in dem meist junge Frauen magische Kräfte bekommen, phantastische Schicksale erleben – und sich hie und da von einem attraktiven Prinzen oder mächtigen Magier verführen lassen.
Die Romantasy zieht so viele und so junge Menschen an, dass für Signierstunden grosszügige Warteflächen markiert wurden – und die übrige Buchbranche neidisch werden könnte. Hie und da sieht man aber auch altbekannte Figuren: Ein Miraculix etwa hat Probleme mit dem Ticket-Scanner, und ein Obelix erklärt: «Das Kostüm hab ich selber genäht, und die Wampe ist 100 Prozent echt!» Vor allem aber passiert in den Fantasy-Hallen, wovon man an den übrigen Ständen nur träumen kann: Menschen stehen Schlange, um ein Buch zu kaufen. Kaum haben sie bezahlt, beginnen sie schon zu lesen. «Während der Messe lese ich normalerweise drei Bücher», sagt eine Elfe mit lila Perücke. Sie tue das meistens auf dem Boden – oder beim Anstehen für das nächste Buch.
Täglich ruft das Publikum
Am ersten Messetag bummelt auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die Massen der Messe, bleibt hie und da stehen, etwa beim Stand des Suhrkamp-Verlags, bei dem im April «Wir» erscheinen soll. «Ein eindringliches Plädoyer des Bundespräsidenten für mehr Zusammenhalt und für den Mut, zu handeln», beschreibt Suhrkamp. Einst staatskritisch, scheint der Verlag nun also staatstragend zu werden.
Am Abend folgt vor etwa 200 Zuhörern eine Rede des Bundespräsidenten mit dem Titel «35 Jahre friedliche Revolution, 75 Jahre Grundgesetz – wie steht es um unsere Demokratie?» Die Antwort bekommt Frank-Walter Steinmeier – wie am Abend zuvor Kanzler Scholz – laut aus dem Publikum zugeschrien: «Stop the fucking genocide!»
Anders als Scholz hört Steinmeier zu. «Das ist ein ernstes Thema, über das wir in diesem Lande nicht nur während der Buchmesse diskutieren», sagt er. Damit lassen sich die Rufe allerdings nicht zum Verstummen bringen. Stattdessen wird die Ruferin von Sicherheitsleuten aus dem Raum gebracht. Doch kaum spricht Steinmeier weiter, kommt aus einer anderen Ecke der nächste Zwischenruf. Stafette zum Zweiten.
Über 20 Minuten werden sieben Aktivisten von Sicherheitsleuten aus dem Saal geführt. Sie rufen dabei «Ceasefire now» und «Free Palestine», das Publikum antwortet mit «Kindergarten» und «Ruhe jetzt!». Steinmeier sagt erst: «Wir sind nicht einer Meinung, aber wir haben Sie gehört.» Irgendwann, dezidierter: «Ihre Lösung ist, Israel ins Meer zu treiben, das ist nicht unsere!» Schliesslich kehrt tatsächlich Ruhe ein, und Steinmeier kann über Ost und West sprechen. Denn es sind bestimmt nicht die Bücher, die Kanzler und Bundespräsident in diesem wichtigen Wahljahr nach Sachsen trieben.
«AfD Kacké»
Beim Schauspielhaus flattert ein «Nie wieder ist jetzt»-Banner über der Hauswand. Der Katapult-Verlag auf dem Messegelände schmückt sich mit bunt bemalten Holzschildern: «AfD Kacké» und «Nie wieder 1933» steht darauf. Dazu gehören Lesungen wie jene mit Susan Arndt unter dem Titel «Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD».
Am Eingang zum Glashaus, das das Zentrum der Messe ausmacht, verteilen Menschen mit Hygienemasken vor den Gesichtern Flyer mit der Aufschrift «Auf der richtigen Seite der Geschichte stehen». Es geht um Palästina. Die Aktivistengruppe scheint nicht gross, aber äusserst gut organisiert. Der Slogan allerdings fasst unfreiwillig zusammen, was die Leipziger Buchmesse ganz grundsätzlich will: auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.
Gesellschaftlich inklusive sein und offen für alle. Neues fördern und Nischen bedienen. Politisch klar gegen die AfD präsentiert man sich, klar für die Demokratie. Bloss wie? Beim Katapult-Verlag steht: «Demokratiefeinde verbieten». Klare Antworten auf die vielen Fragen – Palästina, Ukraine, Waffenlieferungen, gesellschaftliche Spaltung – hört man in Leipzig selten. Das hat vor allem damit zu tun, dass man niemandem auf die Füsse treten möchte.
Gleichzeitig aber scheinen hier, im Osten, alle unter latentem Generalverdacht zu stehen. Das zeigt nicht nur der Titel von Arndts Lesung. Man ist kritisch, manchmal beinahe furchtsam, dann wieder jovial gegenüber den Menschen in Ostdeutschland. Damit und auch mit der unkontrollierten Schrei-Stafette wird vor allem eines an dieser Buchmesse eher unfreiwillig deutlich: Deutschland hat gerade sehr viele Baustellen – und für die meisten fehlen konkrete Pläne.
Der Notfallkoffer
Es gibt an dieser Messe, die nicht nur in Hallen stattfindet, sondern mit den 2500 Veranstaltungen von «Leipzig liest» die gesamte Stadt durchdringt, aber auch berührende Momente. Einen davon im Polnischen Institut.
Unter anderen erzählt hier die ukrainische Dichterin Khrystyna Kozlowska vom Ankommen in Ostdeutschland. Vor zwei Jahren floh sie mit ihrer Tochter aus der Ukraine, mittlerweile sei Leipzig ihre zweite Heimat. Sie spricht zwar Deutsch, ihre Gedichte aber schreibt Kozlowska auf Ukrainisch. Eines davon trägt sie in ihrer Muttersprache vor. Das Publikum hört anständig, aber gänzlich unbeeindruckt zu. Man versteht halt nichts. Darum liest der Gastgeber im Anschluss die deutsche Übersetzung – und plötzlich bricht ein Abgrund auf.
Kozlowskas Gedicht erzählt von ihrem Notfallkoffer, klein und unscheinbar sei er. Als würde sie, seine Besitzerin, hoffen, dass jemand ihn für seinen eigenen halten und mitnehmen würde. Damit sie keinen Notfallkoffer mehr besitzen müsste, der gefüllt ist mit Notfallkleidern, die ganz anders seien als normale Kleider. Notfallkleider nämlich sind nicht zum Anziehen, sondern zur Tarnung gedacht, damit niemand den Körper darin anfassen oder sogar vergewaltigen kann.
Die Stimmung im Raum verändert sich. Gerader sitzen die Menschen plötzlich, bewegter blicken sie auf die Autorin, die das verlegen zur Kenntnis nimmt. Die Übersetzung hat den Blick ins Innerste eines Menschen möglich gemacht und Verständnis zurückgelassen. Der Moment zeigt, welche Kraft den richtigen Worten und dem Zuhören innewohnen kann.
Noch bevor das Gedicht gelesen und der Abgrund aufgerissen wird, dringt von draussen allerdings Lärm in den Saal: Auf dem Marktplatz hat sich eine kleine Gruppe von Pro-Palästina-Demonstranten eingefunden, mit Bannern und den gleichen Parolen, die auch an den beiden Abenden davor laut geworden sind. «Ach, die schon wieder», sagt ein Gast, dann dreht er sich wieder der Dichterin am Rednerpult zu.