Dem Gesellschaftsmodell haftet ein negatives Bild an. Am «NZZ Podium» hoben die Gäste seine Vorzüge hervor – und diskutierten, wie es sich in Zukunft entwickeln wird.
Der Kapitalismus habe wenige Freunde, sagte der Journalist Rainer Hank am Donnerstagabend an der Falkenstrasse. Gier, Profitsucht und Masslosigkeit würden ihm zugeschrieben. Nicht Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit. Letzteres erhofft man sich von ihm seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, als Dampfmaschine und elektrischer Strom, Marktwirtschaft und Wettbewerb zwischen Unternehmen, Städten und Ländern aufkamen. Spätestens seit Marx wird er als Anstifter von Elend, Ausbeutung und Entfremdung kritisiert.
Eine Runde von Gästen diskutierte am «NZZ Podium» die Frage, ob die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihre Versprechen hält. Auf dem Podium sassen neben dem Wirtschaftsjournalisten und Autor Rainer Hank auch die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr, Christian Gattiker, Leiter Research bei der Bank Julius Bär, sowie die SVP-Nationalrätin und Unternehmerin Diana Gutjahr. Der Leiter des Zürich-Ressorts der NZZ, Daniel Fritzsche, moderierte den Anlass.
Hank, der die Wirtschaftsredaktion der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» leitete, gestand den Kritikern zu, dass der Kapitalismus zwei Kollateralschäden verursacht habe. Zum einen habe der Mechanismus des Wettbewerbs, ob gewollt oder nicht, Ungleichheit hervorgebracht. Zum anderen seien während der Hochzeiten der kapitalistischen Produktion die CO2-Emissionen exponentiell gestiegen.
Dem Kapitalismus könne man aber nicht vorwerfen, etwas nicht einzuhalten, beispielsweise vollkommene Gleichheit, denn er habe auch nie etwas versprochen, sagte Hank. Es sei vielmehr eine andauernde Revolution. «Das Modell prägt unser Leben, und das nicht zu unserem Schaden.»
Daten zur Weltbevölkerung sprechen für den Kapitalismus
So zeigten sich die Errungenschaften des Kapitalismus anhand von Zahlen, sagte Hank. Das Leben der Menschen sei seit der Industrialisierung weltweit verbessert worden, wenn auch nicht für alle in gleichem Masse: Das Bruttoinlandprodukt stieg, die Lebenserwartung stieg, der Wohlstand stieg und damit auch die Lebenszufriedenheit. Die Kindersterblichkeit ging zurück, der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, sank.
Zum Beweis, dass der Kapitalismus dabei eine grosse Rolle spielte, verwies Hank auf die unterschiedliche Entwicklung von Nord- und Südkorea. Während Nordkorea es mit dem Kommunismus versuchte, entschied sich Südkorea für den Kapitalismus. Deshalb ist für Hank klar: «Der Ruf des Kapitalismus ist aufzupolieren.»
Regierungsrätin Jacqueline Fehr sagte daraufhin, sie sei froh, sich wenigstens in einem Punkt mit Hank einig zu sein: Leistung, Gleichheit und Gerechtigkeit, das seien keine Versprechen des Kapitalismus. Während auf dem Podium das gegenwärtige Gesellschaftsmodell verteidigt wurde, stellte sie sich allein auf einen anderen Standpunkt.
«Das Erfolgsrezept liegt in der sozialen Zähmung des Raubtierkapitalismus, seiner Einhegung in eine soziale Marktwirtschaft», sagte Fehr. All die Entwicklungen, die Hank aufgezählt habe, seien darauf zurückzuführen. Dort, wo Sozialstaaten die Ungleichheit verringern könnten, seien Innovation und Wohlstand hoch. Es gebe Güter, die nicht für den privaten Markt taugten: Die privatisierte Deutsche Bundesbahn beispielsweise könnte nie die gleichen Leistungen erbringen wie die staatlich kontrollierten SBB.
Sie sei keine Wachstumskritikerin, sagte Fehr. Aber ohne Verantwortung funktioniere das Gesellschaftsmodell nicht, Verantwortung von jenen, die Machtpositionen innehätten, aber auch von jedem Einzelnen. So müsse man sich etwa fragen, ob das Geld mit den richtigen Anreizen an den richtigen Ort fliesse, beispielsweise beim Ausbau der erneuerbaren Energien. «Wir sind nicht dort, wo wir sein könnten.»
Die Krise des Westens
«Jeder von uns sollte Kapitalist sein, denn so wird Wohlstand geschaffen», sagte hingegen Diana Gutjahr, die gleich mit gutem Beispiel voranging und sich selbst als Kapitalistin betitelte. Entgegen der Wahrnehmung sei der Begriff nichts Schlechtes, er zeige, dass man eigenständig und eigenverantwortlich durchs Leben gehe. Der Staat dürfe nicht immer mehr aufgeblasen werden und mehr Steuern fordern, so dass die Menschen weniger zum Leben hätten.
Auch laut Christian Gattiker hat sich der Kapitalismus als überlegenes System durchgesetzt. Das hätten nun auch andere Länder mit Gegenmodellen begriffen. Deshalb befinde sich der Westen heute in einer Krise. In Zukunft würden auch die totalitären Länder die Eigenschaften des Kapitalismus verinnerlichen: «Wir werden einige Experimente sehen.» Das westliche Gesellschaftsmodell hätte diesen Gegenentwürfen dann nichts mehr voraus.
Hank äusserte auch Bedenken, dass mildere Formen des Sozialismus zurückkämen. Die neue Partei von Sahra Wagenknecht, eine Mischung aus starkem Sozialstaat und Protektionismus, stehe in dieser Tradition und finde grosse Zustimmung. Fehr sagte dazu, Wagenknecht habe nur Erfolg, weil das heutige System den Menschen nicht die richtigen Antworten geben könne. Sie erhielten für ihre Lebensexistenz nicht das, was sie sich davon erhofften. «Wir können uns aber entspannen, der Kommunismus kommt nicht zurück.»
In der Diskussionsrunde war man sich schliesslich einig, dass es den einen Kapitalismus nicht gibt. Es gebe verschiedene Definitionen und Unterschiede zwischen den Modellen, die Staaten seien frei zu entscheiden, wie viel Dynamik, Sozialstaat und Ungleichheit sie sich leisten wollten, sagte Hank. So liegt noch lange kein abschliessendes Urteil über das System vor.