Wladimir Putin wird immer wieder Nostalgie für die Sowjetunion nachgesagt. Mit deren Gründer Lenin hat er aber schon mehrmals abgerechnet. Ihn sieht er auch an der Wurzel des Ukraine-Krieges.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Geschichtsliebhaberei zur Waffe gemacht. Die ideologische Grundlage für die Invasion in der Ukraine bildet seine eigenwillige historische Interpretation der russisch-ukrainischen Geschichte. In einem Aufsatz vom Sommer 2021 legte er dar, weshalb es eine ukrainische Nation gar nicht gebe. Ukrainer und Russen seien ein Volk.
Kurz vor dem Einmarsch am 24. Februar 2022 wiederholte er die Argumente in einer Fernsehansprache. Er identifizierte darin auch einen Schuldigen für die Lage, in die Russland und die Ukraine, historisch gesehen, geraten seien: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, den bolschewistischen Theoretiker, Revolutionär und Begründer der Sowjetunion.
Der Held der Oktoberrevolution von 1917, an den bis heute in Russland und in ehemaligen Sowjetrepubliken unzählige Strassen, Plätze und Denkmäler erinnern, starb am 21. Januar 1924, also vor hundert Jahren. Davor aber legte er, wie Putin einmal sagte, «eine Mine» oder gar «Atombombe» unter das Staatsgefüge namens Russland. Lenin ist in Putins Augen und aus Sicht der heutigen russischen Führung kein Vorbild, sondern ein Antiheld.
Bezugsgrösse ist das Zarenreich
Auf den ersten Blick mag das erstaunen. Putin wird gerne mit der Sowjetnostalgie in Verbindung gebracht. Eine seiner bekanntesten Wendungen ist diejenige vom Untergang der Sowjetunion als der grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Seine Politik gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken legt nahe, dass er das 1991 zerfallene Imperium wiederbeleben möchte. Soweit sich Putin die Sowjetunion zum Vorbild nimmt, sind aber nicht Lenin und die Oktoberrevolution seine Bezugsgrössen, sondern die Sowjetunion Josef Stalins und später Leonid Breschnews.
Stalins Repressionspolitik verurteilte er in der Vergangenheit mehrmals, aber Putin lässt sie als schwarzen Fleck inmitten sonst beeindruckender Errungenschaften erscheinen – der Zentralisierung und Festigung des Vielvölkerreichs, der Industrialisierung und des Siegs über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg. Putins eigentliches historisches Vorbild ist allerdings weniger der kommunistische Staat als das zaristische Russische Reich.
Schrecken der Revolution und Ideologie
Sein Argwohn und seine Abneigung gegenüber Lenin liegen wohl gerade darin begründet: Lenin war Zerstörer, nicht Bewahrer der Staatlichkeit, ein Revolutionär, getrieben von Überzeugungen. In beidem ist er ein Gegenbild zu Putin. Dessen ursprüngliche Mission war es, die vom Zerfall bedrohte Russische Föderation wieder straff auf das Zentrum auszurichten, Regionen den Eigensinn zu nehmen und das Land zu stabilisieren.
Eine kohärente politische Ideologie verfolgte Putin dabei nie, er war vom Pragmatismus des Machterhalts geleitet. Auch die jüngste Ideologisierung Russlands unter dem Vorzeichen konservativer, antiliberaler Vorstellungen ist vor allem Mittel zum Zweck, nicht wirklich verinnerlichte Überzeugung. Das zeigt auch ihr Eklektizismus, in dem die Anknüpfung an sowjetische Praktiken und Organisationen mit gesellschaftspolitisch archaischen Moralvorstellungen der orthodoxen Kirche zusammenkommt.
Politisches Aufbegehren oder gar eine Revolution ist Putins Schreckbild schlechthin. Das zeigen die über Jahre gepflegte Paranoia gegenüber den sogenannten «farbigen Revolutionen» im postsowjetischen Raum und die russische Reaktion auf den Maidan 2013/14 in Kiew. Jeglicher Widerstandsgeist der Bürger und vor allem Versuche, politische und gesellschaftliche Strukturen dafür zu schaffen, wurden unter Putin in den vergangenen Jahren konsequent unterdrückt und strafrechtlich verfolgt.
Der «rote Oktober» 1917 jedoch führte zu all dem: zu zeitweiligem Zerfall des Imperiums, zu einem für Russland unvorteilhaften Separatfrieden im Ersten Weltkrieg und zu einem Bürgerkrieg, der noch Jahrzehnte in der Gesellschaft nachwirkte. Putin verweigerte sich 2017 den Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution, was damals weitherum Verwunderung und Unverständnis auslöste.
Die Ukraine als Lenins Konstrukt
Putins Hauptvorwurf an Lenin sagt viel über das eigene Staatsverständnis aus. Dieser habe bei der Gründung der Sowjetunion einen Staatsaufbau bevorzugt, der im Widerspruch zur tausendjährigen Geschichte Russlands stehe, die stets streng zentralistisch organisiert gewesen sei, sagte Putin 2019. Indem Lenin den neuen Staat als Konföderation der Nationalitäten mit Recht auf Austritt konstruiert habe, habe er von Anfang an eine Mine unter die Staatlichkeit gelegt; umso mehr, als die Grenzen willkürlich festgelegt worden seien. Hinzu kam, dass die Kommunistische Partei die grundlegende Stütze des Staates bildete. Als die Partei und deren Ideologie ihre Ausstrahlung verwirkt hatten, musste das, so Putins Sicht, auch zum Ende des Staatswesens führen.
Die Ukraine ist Putins zentrales Beispiel für die drastischen Konsequenzen von Lenins Politik. Er ist davon überzeugt, dass es ohne den bolschewistischen Revolutionär die Ukraine in der Form, wie sie bis 2014 existierte, gar nicht gegeben hätte. In der Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 nannte Putin deshalb Lenins Staatskonstrukt «schlimmer als einen Fehler» für das Schicksal Russlands und seiner Völker. Daraus leitet er heute den Anspruch auf den Donbass und die Südostukraine, selbst auf Charkiw, Odessa und eigentlich auch auf Kiew, ab. Das alles sei «historisches russisches Territorium» und nur durch Lenins fehlgeleitete Politik der Ukraine zugeschlagen worden.
Putins Sicht auf Lenins Nationalitätenpolitik unterschlägt allerdings, dass diese nicht aus dem Nichts kam. Im 19. Jahrhundert hatte sich ein ukrainisches Nationalbewusstsein herausgebildet. Wie in anderen Teilen des sich auflösenden, vom Bürgerkrieg erschütterten Reiches auch erkannten die Ukrainer nach der Revolution 1917 eine Chance für Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Die Gewährung von Autonomierechten für die Völker des Imperiums und die Förderung von deren Sprache und Kultur waren in der Frühphase der Sowjetunion ein Mittel dazu, den bolschewistischen Staat zusammenzuhalten.
Lenin bleibt beim Volk populär
Die Verachtung für Lenin und die Obsession mit dessen angeblichen politischen Fehlannahmen teilt Russlands Gesellschaft kaum. In einem Interview im Hinblick auf das Revolutionsjubiläum 2017 verwies der Petersburger Historiker Boris Kolonizki darauf, dass die Erinnerung an die Oktoberrevolution und die frühe Sowjetunion bis heute Lenin-zentriert sei. Die russische Führung trägt dem Rechnung, indem sie nie Hand ans Lenin-Mausoleum, an Lenin-Denkmäler und an Lenin-Strassen legte.
Im Gegenteil mutet es fast paradox an, dass just in den im Zuge des Krieges einverleibten «neuen Gebieten» im Donbass und im Südosten der Ukraine zuvor getilgte sowjetische Strassennamen, Lenin-Büsten und andere kommunistische Symbolik auferstehen, obwohl in Putins Augen der Revolutionär diese Territorien Russland weggenommen hatte.