Die USA drängen Israel und die Hamas zu einem Waffenstillstand. Eine Übereinkunft soll nicht nur den Krieg im Gazastreifen beenden, sondern auch einen grösseren Waffengang mit Iran abwenden.
Antony Blinken war frohen Mutes, als er vor knapp einem Monat vor die Presse trat. Ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Hamas und Israel liege in greifbarer Nähe, verkündete der amerikanische Aussenminister am 19. Juli voller Optimismus. «Wir befinden uns sozusagen auf der Zielgeraden.»
Endlich sollte der blutige Krieg im Gazastreifen beendet werden. Doch dann traf eine mutmasslich vom Hizbullah abgefeuerte Rakete einen Fussballplatz in den israelisch besetzten Golanhöhen und tötete zwölf Kinder und Jugendliche. Israel schlug zurück und tötete den hohen Hizbullah-Führer Fuad Shukr in Beirut sowie den Hamas-Chef Ismail Haniya in Teheran.
Statt wie angedacht endlich Frieden zu verkünden, hat Blinken jetzt alle Hände voll zu tun, um einen Krieg zwischen Israel und Iran zu verhindern. Denn sowohl Teheran als auch seine Verbündeten aus Beirut haben für die Zweifach-Tötung Rache angekündigt.
Die letzte Möglichkeit, um eine Eskalation zu verhindern
Ausgerechnet in dieser angespannten Lage versuchen die Amerikaner, nun doch noch einen Waffenstillstand in Gaza zu erzwingen – quasi als letzte Möglichkeit, um die grosse Eskalation zu verhindern. Flankiert von seinen westlichen Verbündeten rief Washington Israeli und Palästinenser dringend dazu auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren – und nannte Donnerstag, den 15. August, als Stichtag.
Dieses Mal geht es nicht nur um ein Kriegsende im Gazastreifen, sondern auch um eine direkte Konfrontation zwischen Israel und Iran. Ob es den USA gelingen wird, in Katars Hauptstadt Doha den gordischen Knoten endlich zu durchschlagen und noch vor einem iranisch-libanesischen Gegenschlag ein Abkommen unter Dach und Fach zu bekommen, ist allerdings fraglich.
Die Hamas und Israel haben gegensätzliche Positionen
Als Erstes sorgte die Hamas für Kopfschmerzen bei den Vermittlern, als sie mitteilte, weitere Verhandlungen seien unnötig. Sie werde keine Unterhändler nach Katar schicken, schliesslich habe sie die eigene Position längst durchgegeben, erklärte die Terrorgruppe, die den Krieg in Gaza mit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober vom Zaun gerissen hatte. Diese Ankündigung sollte allerdings nicht überbewertet werden: In den vergangenen zehn Monaten hat die Hamas nie direkt mit den Israeli verhandelt – alles lief über Vermittler.
Die Truppe, die seit dem Tod Haniyas ausgerechnet vom skrupellosen Gaza-Chef Yahya Sinwar angeführt wird, hat vor allem ein Ziel. Sie will, dass sich Israel vollständig aus Gaza zurückzieht und den Krieg beendet. Nur dann wäre sie bereit, die verbliebenen Geiseln schrittweise freizulassen. An dieser Position hat offenbar auch die Tötung ihres bisherigen Chefunterhändlers Haniya nichts geändert.
Auf der anderen Seite steht Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der seiner Bevölkerung einen totalen Sieg versprochen hat und den seine ultrarechten Koalitionspartner vor sich her treiben. Zwar erklärt seine Regierung, am anberaumten Treffen teilnehmen zu wollen. Allerdings ist unklar, ob Netanyahu nicht wie schon oft in letzter Sekunde mit neuen Bedingungen um die Ecke kommt.
Die Vermittler sind genervt
Der israelische Experte Michael Milshtein sieht daher wenig Anlass für Optimismus. «Es gibt immer noch einen grossen Streitpunkt zwischen Israel und der Hamas, der nicht gelöst ist: Bleibt die israelische Armee nach dem Waffenstillstand im Gazastreifen?», sagt Milshtein, der früher die Palästinenserabteilung im Militärgeheimdienst geleitet hat.
Netanyahu verlangt, auch künftig die Kontrolle über das Grenzgebiet zwischen dem Gazastreifen und Ägypten zu haben und auch in Zukunft in dem Küstengebiet Kontrollen durchführen zu können. Dies lehnt die Hamas ab. Auch im eigenen Lager stösst Netanyahu mit seinen Forderungen inzwischen auf Unverständnis.
Jüngst stritt er sich mit seinem Verteidigungsminister Yoav Gallant in aller Öffentlichkeit. Wie viele Militärs befürwortet Gallant eine Einigung. Sollte Netanyahu einen Waffenstillstand schliessen, droht ihm ein Zusammenbruch seiner rechts-religiösen Regierungskoalition: «Ich sehe daher keine wirkliche Motivation aufseiten Netanyahus, sich auf ein Abkommen einzulassen», sagt Milshtein.
Die Amerikaner, die Israel derzeit mit ihrem Militär gegen die iranische Bedrohung zur Seite stehen, haben von den Kapriolen die Nase voll. Präsident Joe Biden soll Netanyahu kürzlich sogar in einem Telefongespräch als «Lügner» bezeichnet haben. Netanyahu hingegen bestreitet, die Verhandlungen zu sabotieren.
Die ebenfalls als Vermittler tätigen Staaten Katar und Ägypten sind wiederum genervt von der Hamas. Denn Sinwar – der schon vor seiner Ernennung zum Hamas-Chef stets das letzte Wort in den Verhandlungen hatte – ist offenbar bereit, Tausende weitere Zivilisten zu opfern, um für sich und seine Kämpfer bessere Bedingungen auszuhandeln. Als Zeichen seiner Hartnäckigkeit erschütterte am Mittwochnachmittag ein lauter Knall die Mittelmeerstadt Tel Aviv, als das Raketenabwehrsystem Iron Dome ein Hamas-Geschoss vom Himmel holte.
Zum ersten Mal sitzt Iran indirekt mit am Tisch
Obwohl sich seit den letzten Verhandlungen im Juli im Gazastreifen wenig geändert hat, ist eine Sache diesmal anders. Im Gegensatz zu den vorherigen Gesprächsrunden sitzt nun auch Iran mit am Tisch – wenn auch nur indirekt. Teheran, welches allem Säbelrasseln zum Trotz wenig Interesse an einem offenen Krieg gegen Israel und Amerika hat, liess durchblicken, dass es im Falle eines Waffenstillstands in Gaza auf einen Vergeltungsschlag für die Tötung Haniyas verzichten könnte.
So berichtete die Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag unter Berufung auf hochrangige iranische Quellen, dass ein Waffenstillstand Teheran davon abhalten könne, die Tötung Haniyas direkt zu vergelten. Wenige Stunden darauf pflichtete dem sogar Biden bei. Er erwarte, dass Iran seinen Gegenschlag zurückhalte, falls es einen Durchbruch bei den Verhandlungen gebe, sagte der Präsident gegenüber Reportern.
Sollte Teheran Interesse an einer Einigung haben, könnte es weitaus mehr Druck auf die lädierte Hamas ausüben als die arabischen Staaten Katar und Ägypten. Denn mit Sinwar steht nun ein Mann an der Spitze der Hamas, der um einiges abhängiger vom grossen iranischen Verbündeten ist, als es die Exil-Bosse um Haniya waren, die auch gute Beziehungen zu den arabischen Golfstaaten unterhielten.
Ob Netanyahu auf ein Angebot der Hamas eingehen würde, ist eine andere Frage. Einerseits kann Israels Ministerpräsident mit der Tötung Haniyas zwar einen Prestigeerfolg vorweisen, der sich in steigenden Zustimmungswerten ausdrückt. Andererseits dürfte er aber alles andere als erpicht darauf sein, ausgerechnet unter dem Druck Irans ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. Antony Blinken stehen daher vermutlich weitere schwierige Tage bevor.
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