Schweizer sollen ihren Stromversorger künftig frei wählen dürfen. Das hat England schon probiert: Auf der Insel war das Angebot riesig – mit drastischen Folgen.
Der Schweiz gelingt ein Kunststück: Das Land zählt über 600 Grundversorger, die ihren Kunden Strom anbieten. Dennoch haben die Kunden keine Auswahl, welchen Versorger sie möchten. Herr und Frau Schweizer müssen beim lokalen Anbieter ihrer Gemeinde bleiben, oft dem örtlichen Elektrizitätswerk. Das geplante Stromabkommen mit der EU soll das ändern, den Haushalten Wahlfreiheit geben und damit Wettbewerb sowie tiefere Preise ermöglichen.
Diese Deregulierung ist wünschenswert und überfällig, will aber genau geplant sein. Eine Liberalisierung sollte nicht einfach Laissez-faire bedeuten, wie sich eindrücklich im Mutterland des Kapitalismus zeigt: In Grossbritannien ging der absichtlich forcierte Wettbewerb zwischen den Stromanbietern nach hinten los. Denn was nützt ein günstiger Versorger, wenn er pleite ist?
Wenn Stromversorger den Strom nicht mehr zahlen können
Wenig, wie Anfang April die 90 000 Kunden von Rebel Energy feststellten. Die Rebellion ist gescheitert, das 2019 gegründete Unternehmen hat den Betrieb eingestellt. Rebel Energy konnte seine eigenen Stromrechnungen nicht mehr bezahlen. Die Firma verkaufte Strom und Erdgas an Privat- und Firmenkunden, besass selbst aber keine Kraftwerke. Sie hat alle Energie am Markt eingekauft und dann an die Kunden weiterverkauft. Doch die Einnahmen reichten zuletzt nicht mehr, um den Einkauf zu bezahlen.
Der Kollaps von Rebel Energy erinnert an eine Krise, die den britischen Strommarkt im Jahr 2021 erfasste. Damals konnten die Haushalte auf der Insel aus rund 70 Versorgern wählen. Doch binnen weniger Monate gingen 30 von ihnen bankrott. Rund 4,5 Millionen Briten verloren in dieser Zeit ihren Stromanbieter. Die Regierung musste der Bevölkerung zusichern, dass es genug Strom auf der Insel gebe. Insgesamt sind seit 2018 die Versorger von knapp 6 Millionen Kunden kollabiert – etwa die Einwohnerzahl der Deutschschweiz.
Das Problem war meistens ähnlich wie bei Rebel Energy: Bei den Firmen handelte es sich um reine Handelsunternehmen, die den Strom im Grosshandel einkauften, um ihn weiterzuverkaufen. Doch während die Stromtarife für die Endkunden für eine gewisse Laufzeit fixiert waren und der Standardtarif gedeckelt war, beschafften sich die Unternehmen die Energie oft tagesaktuell am Strommarkt.
Die Regulierung stiftete zum Risiko an
Das machte sie sehr anfällig für Preissprünge im britischen Grosshandel. Dort schossen die Erdgaspreise ab dem Sommer 2021 in die Höhe – und in der Folge auch die Strompreise, denn Elektrizität wird auf der Insel zu einem grossen Teil aus Gas erzeugt. Der Ukraine-Krieg war zwar noch einige Monate entfernt, doch Russland hatte bereits seine Erdgaslieferungen nach Westeuropa gedrosselt.
Viele Stromanbieter hatten sich nicht mit Termingeschäften abgesichert, um Strom über längere Zeit zu fixierten Preisen zu beziehen. Sicherheit kostet Geld, das sie lieber in den Kampf um neue Kunden investierten. Manche waren auf einen steten Zustrom angewiesen, um liquide zu bleiben. Man mag überlegen: Was würde ein Schweizer Elektrizitätswerk im Überlebenskampf tun?
Der grosse Fehler war, dass die Versorger überhaupt so risikoreich agieren durften. Schliesslich ist die Lieferung von Elektrizität so wichtig, dass die Unternehmen nicht umsonst «Grundversorger» genannt werden. Doch die Liberalisierung war über das Ziel hinausgeschossen.
Im Extremfall zahlt der Steuerzahler
Dabei waren die Absichten redlich: Noch vor zwanzig Jahren wurde der britische Energiemarkt von sechs grossen Versorgern dominiert. Um den Wettbewerb zu beleben und die Preise zu senken, reduzierte die Aufsichtsbehörde die Anforderungen für neue Anbieter sehr stark. Unter anderem durften sie auf die Absicherung ihres Strombedarfs verzichten.
Als das Klima am Strommarkt rauer wurde, nahm das Unglück seinen Lauf. Immerhin sass keine britische Familie plötzlich im Dunkeln. Wenn ein Versorger pleitegeht, bestimmt die Aufsichtsbehörde einen Konkurrenten, der seine Kunden übernehmen muss. Diese unfreiwillig hinzugewonnenen Abnehmer belasten dann dessen Kalkulation. Und im Extremfall springt immer der Steuerzahler ein: Die kollabierte Bulb Energy war mit 1,7 Millionen Kunden so gross, dass sie Ende 2021 unter staatliche Aufsicht gestellt wurde.
Seit dieser Zeit wurde die Aufsicht in Grossbritannien verschärft. Neue Anbieter müssen strengere Regeln erfüllen. Und tatsächlich ist nach Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022, der die Energiepreise im Grosshandel regelrecht explodieren liess, kein Versorger in die Pleite gerutscht – bis es vor wenigen Wochen Rebel Energy erwischte. Aber etwas Schwund ist im freien Markt normal.