Manchmal stottern die Menschen, manchmal öffnen sie sich: Sexuelle Verklemmung und Emanzipation kommen beim Berlinale-Gewinner Dag Johan Haugerud im Duett daher.
Die Frau möchte nochmals mit ihrem Mann sprechen. Sie liegt schräg in ihrem Stuhl, die Kaffeetasse steht am Boden, und sie schaut durch eine Glasfassade auf Oslo. Er sitzt neben ihr auf der Armlehne eines weiteren Stuhls. Am Vortag hat er ihr gestanden, dass er zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen hat. Er würde es nie wieder tun, es sei einfach so geschehen. Sie kann ihm nicht wirklich verzeihen, hat das Gefühl, sie kenne ihn nicht mehr. Diese Sequenz aus «Sex» dauert mehrere Minuten und ist typisch für die «Oslo Stories» von Dag Johan Haugerud.
In ihr verbindet sich die norwegische Lust an Geständnisliteratur mit einer intellektuellen Erkundung von Sex, Liebe und Begehren durch Menschen, die keine anderen Probleme zu haben scheinen. Die nun über mehrere Wochen in die Schweizer Kinos kommende Trilogie, deren Teile «Love», «Dreams» und «Sex » nur lose und episodenhaft in ihrer Hinwendung zu zwischenmenschlichen Begegnungen in Oslo zusammenhängen, möchte den Status quo norwegischer Leidenschaft erkunden. Wie wird heute geliebt? Welche Körper begehren? Welche Sprache gibt es für die Sexualität? Wo beginnt Liebe, und wo hört sie auf?
Alle sind sehr erwachsen
In den Filmen geht es viel – aber nicht nur – um queeres Begehren. Und ein wenig geht es wohl auch darum, möglichst bürgerliche Filme über Themen zu machen, die noch immer eher am Rand des bürgerlichen Selbstverständnisses angesiedelt sind. Ähnlich wie weibliche Superhelden kann man das als wichtigen Schritt begreifen oder als eine Eingliederung von Lebensrealitäten, von denen nicht genug erzählt wurde, in Geschichten, die schon tausendmal erzählt wurden.
Männer entdecken ihre Anziehung zu anderen Männern, Frauen zu anderen Frauen, die nächsten verfolgen Gelegenheitssex via Grindr (das Tinder für nicht heterosexuelle Menschen), wieder andere öffnen ihre lang bestehenden Beziehungen für neue Erfahrungen. Die Figuren sorgen sich, berühren sich. Man freut sich, dass hier alle so erwachsen miteinander umgehen, die Filme widersetzen sich der um sich greifenden Infantilisierung des Kinos.
Haugerud fährt ein komplexes Gemisch aus gleichzeitig in Menschen existierenden Gefühlen auf, die zeigen, was die prägende Figur episodenhafter Romantik im Kino, Jean Renoir, schon vor fast einhundert Jahren wusste: «Das Schlimme ist, dass alle ihre Gründe haben.» Stark sind die Filme immer dann, wenn das deutlich wird.
So werden diejenigen, die sonst nur Nebenrollen verkörpern, zu fühlenden Menschen. Etwa die Grossmutter im diesjährigen Berlinale-Gewinner «Dreams», die im unbedarften Schreiben ihrer Enkelin erkennen muss, was ihrem eigenen Schreiben fehlt. Oder der Krankenpfleger in «Love», der als freigeistiger Amor auftritt, aber eigentlich nur selbst nach Geborgenheit sucht.
Ein Gefühl der Einsamkeit
Oft erzählt eine Figur einer anderen von Liebesproblemen, nur um dann festzustellen, dass die mit ihren eigenen Themen zu kämpfen hat. Niemand ist je fertig mit Liebe, Sex und Träumen. Gefilmt ist das grossteils in langen, statischen Einstellungen sprechender Menschen.
Die Bewegungen gehen eher von den Worten aus als von den Handlungen. Das liegt womöglich daran, dass der Regisseur auch als Schriftsteller arbeitet, oder aber es ist ein Kommentar zu einer Form der Leidenschaft heute, die vermehrt in Erzählungen, Chats, Träumen und Fiktionen ausgelebt werden kann. Es bleibt das Gefühl einer Einsamkeit in diesen Worten. Sie verführen, aber führen manchmal zu nichts.
In «Dreams» ist es eine literarische Erzählung über ein sexuell-emotionales Coming-of-Age, die Liebe greifbar macht. In «Sex» wird gleich am Anfang von einem Traum erzählt, in dem sich ein Mann unter den Augen von David Bowie als Frau fühlt. In «Love» berichten sich zwei Menschen während ihrer Arbeit im Krankenhaus von ihren Liebesabenteuern. Mehr als Filme über Liebe oder Sex sind das Filme darüber, wie Menschen über Liebe oder Sex sprechen. Manchmal stottern sie, manchmal öffnen sie sich. Sexuelle Verklemmung und Emanzipation singen hier im Duett.
Entscheidend sind auch die Orte. Die öffentliche Sphäre fördert die Emanzipation des Individuums, heisst es, mit Hannah Arendt, in «Sex». Die wiederholten Totalen der norwegischen Hauptstadt widersprechen der Philosophin fast, denn die Entfaltung der Einzelnen wird erschwert zwischen Designerhütten und Betonbauten.
Zwischendurch stellt sich die Frage, ob diese Trilogie eigentlich von einem Versiegen des erotischen Potenzials in einer westlichen Grossstadt berichtet. Eine Fähre im Fjord in «Love» scheint einer der letzten öffentlichen Orte zu sein, in denen mehr möglich ist, als die Stadtplaner vorgesehen haben. Sonst herrschen Anonymität, Geld und Funktionalität in Oslo, auch wenn die Lichter nachts besonders schön aufs Fjord fallen.
Vielleicht aber ist diese Stadt nur mehr eine Kulisse für den eigentlichen öffentlichen Raum online. Das merkt man, wenn von Youtube-Kanälen, Dating-Apps oder Instagram die Rede ist. Aber Haugerud macht keine Statements, er versucht sich als Seismograf gegenwärtiger Sexualität. Dass «Love» mit einem Mann in Foodora-Arbeitskleidung beginnt, überrascht nicht. Die Filme umkreisen neoliberale Wirklichkeiten und wiegen sie gegen Sexualbilder auf.
Dabei tappt der Filmemacher allerdings in die Falle, die Gesellschaft als sehr divers in ihren sexuellen Identitäten darzustellen, aber als homogen in der Art, sich selbstreflektiert und gebildet auszudrücken, egal, ob sie Ärztinnen, Schülerinnen oder Kaminfeger sind. Man kann einem norwegischen Filmemacher schwer vorwerfen, dass er die Liebe im Wohlstand beleuchtet, aber es schleicht sich zumindest ein Unbehagen ein. Ist das wirklich alles, was diese Menschen beschäftigt?
Hinzu kommt, dass die Filme trotz dem neoliberalen Setting ausgerechnet den Arbeitsplatz als Oase zeigen, in der sich die Menschen in den Pausen über ihr Liebesleben austauschen. Von der anderen Seite betrachtet, könnte sich darin aber doch ein radikaler Kommentar finden, denn es gelingt den Filmen, frei von Pathos zu sagen, dass Begehren wichtiger ist als Arbeit.