Von manchen Schriften existiert schlicht zu wenig Textmaterial. Bei anderen macht die Entzifferung langsam Fortschritte – und es gibt einen besonders heissen Kandidaten für den nächsten Durchbruch.
Es ist eine romantische Vorstellung, dass jemand sich in einer stillen Kammer über die rätselhaften Zeichen einer alten Schrift beugt und plötzlich, Heureka!, erkennt, was sie bedeuten. Schriftsysteme, die nicht geknackt sind, gibt es noch einige: Linear A aus der Bronzezeit auf Kreta, Rongorongo von den Osterinseln, Isthmisch aus Mittelamerika, die Kitan-Schriften aus China und noch ein paar andere.
Weniger sind es in den vergangenen Jahren nicht geworden. Nur bei der Issyk-Baktrien-Schrift, die vor 2000 Jahren in Kasachstan in Gebrauch war, gab es im vergangenen Jahr einen Durchbruch. Möglich wurde er durch den Fund einer Bilingue, also eines zweisprachigen Textes – ein Glücksfall, den es nur selten gibt. Eine 2022 vorgestellte Entzifferung der sogenannten Elamischen Strichschrift aus dem heutigen Iran ist umstritten. Im Grossen und Ganzen kann man sagen: Die romantische Vorstellung ist nicht Wirklichkeit geworden.
Die Entzifferung einer Schrift erfolgt ohnehin nie in einem einzigen Geistesblitz, dafür ist sie viel zu komplex. Sie umfasst vielmehr viele Schritte, deren Abfolge nicht festgelegt ist:
- Man muss herausfinden, welche grammatikalische Funktion die einzelnen Zeichen haben: Stehen sie für ganze Wörter, für einzelne Buchstaben oder für Silben? Ist es eine Mischung aus allem, wie bei den ägyptischen Hieroglyphen?
- Man muss herausfinden, in welche Richtung die Schrift gelesen werden muss, ob und wie Wörter getrennt werden und ob Zeichen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Dinge bedeuten können.
- Man muss herausfinden, welche Sprache die Zeichen repräsentieren. Die Sprache muss dazu nicht zwingend schon bekannt sein; man kann ihre Grammatik auch mithilfe der nun lesbaren Schrift erschliessen, wie etwa bei der Maya-Schrift.
- Man muss eine Liste der Vokabeln erstellen und möglichst viele von ihnen übersetzen können.
Bei einigen Schriften ist klar, dass sie in näherer Zukunft nicht lesbar werden können. Denn um eine Schrift zu entziffern, braucht es vor allem eines: Textmaterial. Die Bedeutung von Zeichen lässt sich nur erschliessen, wenn man sie in möglichst vielen unterschiedlichen Kombinationen vorliegen hat. Die Zeichen auf dem sogenannten Diskos von Phaistos, einer wahrscheinlich etwa 3600 Jahre alten Scheibe aus gebranntem Ton aus Kreta, kommen sonst praktisch nirgendwo vor; eine seriöse Entzifferung ist unmöglich.
Beim Material zählt nicht nur die Menge, sondern auch der Inhalt. In Linear A geschriebene Wörter zum Beispiel könnten wir lesen, wir kennten den Lautwert der Zeichen, erklärt Pippa Steele von der Universität Cambridge. Doch weil es ausser Listen von Waren keine Texte gibt, lässt sich die Grammatik der Sprache kaum rekonstruieren.
Da hilft auch künstliche Intelligenz nicht weiter: Es gebe einfach nicht genug Material, um den Algorithmus zu trainieren, sagt Steele.
Sie geht nicht davon aus, dass Linear A die nächste entzifferte Schrift sein wird. Ein heisserer Kandidat ist eine 5000 Jahre alte Schrift aus dem heutigen Iran, der sich ein Kollege von Steele in Oxford seit Jahren widmet: Protoelamisch. «Ich glaube, wir können Protoelamisch in ein paar Jahren entziffern», schreibt Dahl auf Anfrage. «Wir verstehen mehr oder weniger, wie das System funktioniert. Aber es ist ein logografisches System» – das heisst, jedes Zeichen ist ein ganzes Wort –, «und die Datenmenge ist gewaltig, deshalb ist die Entzifferung sehr zeitaufwendig.» Für die Entzifferung sei vor allem eins nötig: Geld – ganz unromantisch.
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