Sechseläuten und 1. Mai fallen in dieselbe Woche. Und sind sich ähnlicher, als es scheint.
Sie schwingen Fahnen. Sie marschieren durch die Stadt. Sie tragen Abzeichen und spielen jedes Jahr die gleichen Lieder. Und wer Macht und Einfluss hat, schliesst sich ihnen gerne an.
Sie, das sind am kommenden Montag die Zünfter, die das Zürcher Sechseläuten feiern. Und sie, das sind am Donnerstag die Teilnehmer der Zürcher 1.-Mai-Demonstration. Die gesellschaftlich symbolträchtigsten Anlässe der Stadt finden dieses Jahr in derselben Woche statt. Nur drei Tage trennen die beiden Umzüge.
Ihre Klientel, ihre Botschaft und ihre Insignien – Pferde und mittelalterliche Kostüme hier, Transparente und rote Fahnen dort – könnten unterschiedlicher nicht sein. Trotzdem sind sich die zwei Ereignisse in mancher Hinsicht erstaunlich ähnlich: in ihrer immergleichen ritualisierten Abfolge. Im Gefühl von Zugehörigkeit, das sie Eingeweihten vermitteln.
Und in der Geschichte ihrer Entstehung.
Das Sechseläuten, ein modernes Fest
Das Sechseläuten in seiner heutigen Form entsteht zu einem Zeitpunkt, da die Zünfte ihre Bedeutung gerade endgültig eingebüsst haben: Seit den 1830er Jahren feiern die ersten losen Umzüge den Frühling. Doch dann erhalten 1866 alle Zürcher das Wahlrecht.
Die Zugehörigkeit zu einer Zunft – jahrhundertelang Bedingung für politische Mitsprache – wird damit bedeutungslos.
Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Demokratisierung: In Zürich bleibt in dieser Zeit kein Stein auf dem anderen. Manchmal auch sprichwörtlich: Mit dem Kratzquartier – dem Ort, aus dem die Vorläufer der heutigen Böögg-Verbrennung stammen – wird ein ganzer mittelalterlicher Stadtteil abgerissen.
Je mehr das Alte verschwindet, desto leidenschaftlicher wird es gefeiert. Je mehr die Macht der alten Wirtschaftseliten schwindet, desto wichtiger wird der Umzug, mit dem sie zeigen können: Wir sind noch da.
In einer frühen Sechseläutenrede von 1846 ruft der Zunftmeister der Zunft zur Schneidern, Hans Caspar Wirz, den Zünftern ihre Werte in Erinnerung. Nämlich, «dass der Niedrige und Unbemittelte den Angesehenen und Reichen als die Stützpunkte bürgerlicher Wohlfahrt, ohne Neid, achte und ehre».
Und dass «der schlichte, brave, für sein tägliches Brot arbeitende Bürger gleichsam von Gott dazu bestimmt zu sein scheint, dem Reichen nicht nur sein Hab und Gut, sondern selbst sein Leben zu schützen und zu erhalten».
Ende des 19. Jahrhunderts entsteht der Sechseläutenumzug in seiner heutigen Form. Seit 1896 gibt es den offiziellen Kinderumzug. Kurz nach der Jahrhundertwende wird der Böögg erstmals auf dem heutigen Sechseläutenplatz verbrannt. Auch neu gegründete Zünfte nehmen daran teil.
Das Sechseläuten ist damit – gerade in seiner Anlehnung an das Mittelalter – ein zutiefst modernes Fest. Oder, wie es der Historiker Valentin Groebner sagt: «Da feiert sich eine moderne Industriemetropole – die aber nicht sagen will, dass sie eine moderne Industriemetropole ist.»
Der 1. Mai und das Mittelalter
Zur gleichen Zeit wie das moderne Sechseläuten entsteht der Tag der Arbeit, inspiriert von einer gewaltsam unterdrückten Grossdemonstration in Chicago von 1886. Die Sozialistische Internationale erklärt den 1. Mai drei Jahre später zum Arbeiter-Kampftag. 1890 wird er erstmals in der Schweiz begangen, an 34 Orten.
Trotz Entlassungsdrohungen der Arbeitgeber marschieren in Bern rund 2000 Gewerkschaftsmitglieder durch die Innenstadt. Die Maurer erscheinen im Arbeitskleid, die Schreiner mit geschulterten Werkzeugen. Die Buchbinder tragen ein eigens angefertigtes mannsgrosses Buch zur Schau. «Ein Bild von klassenbewusster Eintracht, wie man es nicht besser wünschen konnte», hätten sie dabei abgegeben. So steht es später in der Zeitung «Der Schweizerische Sozialdemokrat».
In Zürich mangelt es den Arbeitern für einen Umzug durch die Stadt noch an Selbstbewusstsein. Stattdessen finden sich 4000 Personen am Seebecken ein, um gemeinsam den Worten des Festredners Robert Seidel zu lauschen. Der gelernte Tuchmacher und spätere Pädagoge hatte 1869 zu den Gründervätern der deutschen SPD gehört.
Die Hauptforderung der versammelten Demonstrierenden ist der Acht-Stunden-Tag. Die meisten Arbeiter schuften zu jener Zeit an jedem Wochentag zwölf und am Samstag zehn Stunden.
Bemerkenswert ist der Ort, an dem die Zürcher 1.-Mai-Tradition begründet wird: Man trifft sich vor der damaligen Tonhalle. Als diese später abgerissen wird, bekommt der Platz einen neuen Namen: Sechseläutenplatz.
Was die beiden Stadtfeste über ihre Teilnehmer verraten
Ab 1890 findet die Demonstration jährlich statt, bald nehmen Zehntausende daran teil. Der 1. Mai wird für die Arbeiterbewegung zum Vehikel, um sich als geeinte politische Kraft zu inszenieren.
Eine zentrale Rolle spielt dabei dieselbe glorifizierte Vergangenheit, auf die sich auch Bürgerliche berufen: das Spätmittelalter.
In Anlehnung an den Rütlischwur nennt sich die tonangebende Organisation der Schweizer Linken «Grütliverein». In dieser Lesart sind die Eidgenossen, die sich 1291 die Treue schworen, frühe «Genossen» in ihrem Befreiungskampf. 1899 wirbt die nationale SP gar mit der Schlacht um Sempach um Wählerstimmen. Sie wird auf einem Plakat als «Kampf zwischen Kapital und Arbeit» gedeutet – mit den Österreichern als kapitalistischen Ausbeutern und Winkelried als sterbendem Proleten.
In der Industriestadt Zürich ist dieser Konflikt besonders virulent: Das Stadtfest, an dem man teilnimmt, signalisiert, auf welcher Seite man steht. Wie nah die bürgerliche Sechseläutenwelt und das «rote Zürich» sich trotzdem sein können, zeigen Biografien wie die von Karl Bürkli (1823–1901).
Bürkli ist der Sohn eines Seidenfabrikanten, wird in einer Villa am heutigen Paradeplatz geboren, mitten in die Zürcher Elite hinein. Als junger Mann findet er aber zum Sozialismus – und kämpft danach mit seinem Geld und seinem guten Namen gegen jene Wirtschaftselite, der er selbst entstammt. Von ihm ist der Spruch überliefert: «Warum ich Sozialist wurde? Weil es in Zürich so langweilig war.»
«Eine Schandtat kommunster Art»
Zur Zeit des Ersten Weltkriegs erreichen die Spannungen zwischen dem linken und dem bürgerlichen Zürich mit Streiks, Protesten und revolutionären Gästen wie Lenin oder Trotzki ihren Höhepunkt. 1919, im Jahr nach dem Landesstreik, findet in der Stadt die grösste 1.-Mai-Demonstration der Schweizer Geschichte statt. 50 000 Personen nehmen daran teil.
1921 richtet sich der linke Protest direkt gegen das Sechseläuten. Kommunisten stiften einen Jugendlichen an, den Böögg frühzeitig in Brand zu setzen – aus Protest gegen die grassierende Arbeitslosigkeit. «Eine Schandtat kommunster Art», so kommentiert die NZZ. Die Rädelsführer werden schliesslich in einem aufsehenerregenden Prozess zu je sechs Monaten Arbeitshaus verurteilt.
1928 übernimmt die Linke schliesslich die Mehrheit in der Stadtregierung. Aus dem liberalen wird das rote Zürich. Es ist ein politischer Wendepunkt, der aus dem 1. Mai plötzlich das Fest der neuen Mehrheit macht – und aus dem Sechseläuten das der besiegten Minderheit.
Der Kampf um die Deutungshoheit über das moderne Zürich ist damit aber nicht vorbei. Während des Zweiten Weltkriegs leiden beide Umzüge unter harten Restriktionen: Das Sechseläuten darf den Böögg zum Teil gar nicht oder dann nur am Seebecken entzünden, wo er 1944 elendiglich ins Wasser stürzt. Am 1. Mai unterstehen die skandierten Parolen der staatlichen Zensur.
Im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit kehren schliesslich die Bürgerlichen an die Macht zurück, stellen die Mehrheit in der Stadtregierung. Von einem unrühmlichen Jahr auf Steckenpferden einmal abgesehen, wird das Sechseläuten zum unangefochtenen Stadtfest. Der 1. Mai dagegen ist in einer Sinnkrise und öffnet sich – selbst Trachtengruppen, bürgerliche Musikvereine und Ehrendamen nehmen zeitweise daran teil.
Der Böögg wird geklaut
1981 begleiten plötzlich Polizisten in Kampfmontur den Sechseläutenzug. Zürich ist im Bann der «Bewegten» – der neuen linken Jugendbewegung, die in den Jahrzehnten darauf zur politischen Kraft wird. Auch am 1. Mai, wo ihre radikalsten Ausläufer in den 1990er Jahren das neuste und unrühmlichste Ritual in ihrer Geschichte begründen: die jährliche Nachdemonstration des schwarzen Blocks.
Seither gehören vermummte Möchtegern-Revolutionäre, das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und Debatten über den Einsatz von Gummischrot sowie Wasserwerfern zum Tag der Arbeit dazu. Genauso wie der friedliche Hauptumzug im Geist der Gründerjahre.
Linksautonome sind es auch, die 2006 den aufsehenerregendsten Zusammenstoss der zwei Festivitäten provozieren: Sie klauen den Schneemann aus der Garage des Böögg-Bauers. Zurück lassen sie einen Osterhasen.
Der Böögg habe die Schnauze voll, seinen Kopf für Kapitalistinnen hinhalten zu müssen, heisst es in einem Bekennerschreiben. Die Zünfte gehörten «auf die Müllhalde der Geschichte oder vielleicht ins Kuriositätenkabinett. Nicht aber auf die Strasse.»
Der Schneemann taucht schliesslich – seiner Feuerwerkskörper beraubt – am 1.-Mai-Umzug auf. Die Böller werden zu Sprengsätzen umfunktioniert und kommen später bei Anschlägen auf öffentliche Gebäude zum Einsatz.
Die Zünfter ihrerseits zünden 2006 einen Ersatz-Böögg an, dessen Kopf nach bloss 10 Minuten explodiert.
Politisch hat der Wind derweil gedreht. Seit 1990 ist Zürich wieder stramm links regiert; die städtischen Bürgerlichen sind in einer Sinnkrise. Und wie der 1.-Mai-Umzug in der Nachkriegszeit, so wandelt sich heute auch das Sechseläuten – als Reaktion auf die politische Grosswetterlage.
Tote Fische werden nicht mehr in die Menge geworfen. Viele Mitglieder der Zunft zum Kämbel verzichten auf ihre braune Gesichtsbemalung. Und: Seit kurzem dürfen offiziell auch Frauen mitlaufen – allerdings noch immer nur bei einigen wenigen Zünften.