Er habe zwar keinen Pakt mit dem Teufel geschlossen, wie der Protagonist seines neusten Romans, «Die Schule der Nacht», sagt der norwegische Autor. Aber nachdem er seine Familie literarisch vor der ganzen Welt entblösst habe, sei er doch in eine Art Hölle gekommen.
Vor einigen Jahren nannte der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård sich selbst in einem Interview «Dracula». Ein Vampir war er tatsächlich, gierig allerdings nicht nach Blut, sondern nach den Gefühlen und Nöten der Menschen, die ihm am nächsten standen.
Die alkoholabhängige Grossmutter, der Bruder, der verstorbene Vater, mit dem ihn ein schwieriges Verhältnis verbunden hatte, aber auch die eigenen vier Kinder und die schwer manisch-depressive Ehefrau – Knausgård schrieb alles über alle. Ohne Hemmungen oder literarisches Kaschierwerk erzählte er sein eigenes Leben – und von den Menschen, die darin eine wichtige Rolle spielten. Er nahm seinen Alltag, mit allen Schattenseiten, Details und Schammomenten, machte daraus Literatur und nannte das Werk «Min Kamp».
Bis zu diesem Moment war Knausgård in Norwegen ein erfolgreicher Schriftsteller, mit respektablen Preisen ausgezeichnet, sein Werk wurde in einige Sprachen übersetzt. Als aber 2009 in Norwegen die ersten drei Bände von «Min Kamp» – auf Deutsch später als «Sterben» (2011), «Lieben» (2012) und «Spielen» (2013) publiziert – erschienen, wurde er zu einem internationalen Star. Renommierte Autorinnen wie Zadie Smith waren ebenso begeistert wie die Boulevardpresse. Letztere machte es sich zur Aufgabe, noch mehr Details aus Knausgårds Familienleben an die Öffentlichkeit zu bringen.
Der Serien-Mann
2011 erschien mit «Kämpfen» der letzte Band der «Min Kamp»-Serie. Vier Jahre und zwei weniger erfolgreiche Bücher später setzte Knausgård die literarische Entblössung der eigenen Familie in seiner Jahreszeiten-Tetralogie fort. Seine Ehe mit Linda Boström Knausgård überlebte das nicht. Boström, selbst Autorin, schrieb in «Oktoberkind» (2022) knapp, aber präzise über die gescheiterte Beziehung zum Vater ihrer Kinder, die eigene psychische Erkrankung und ihre Erfahrung mit der norwegischen Psychiatrie. Er lebt heute in London, hat wieder geheiratet und ist Vater eines fünften Kindes geworden.
Über die neue Familie schreibt Knausgård nicht mehr. Stattdessen hat er etwas Neues angefangen: die «Morgenstern»-Serie. Dystopischer Realismus mit einem Tropfen Phantastik. Auf die Frage, ob er die meisten seiner Bücher in Serien einreihe, weil er ein besonders ordentlicher Mensch sei, schüttelt er den Kopf. Für ihn sei alles Chaos. Besonders die Bücher der «Morgenstern»-Serie. Noch habe er keine Ahnung, wie all die Geschichten dereinst zu einem gemeinsamen Ende kommen sollten.
Die Geschichten erzählen von einem neuen Stern am Firmament. Seit seinem Auftauchen haben die Leute plötzlich aufgehört zu sterben. Eben erschien der vierte Band, «Die Schule der Nacht». Noch ist der Stern nicht da, noch sind die Menschen sterblich. Einer von ihnen, der Fotografie-Student Kristian Hadeland, träumt allerdings bereits von der Unsterblichkeit, genauer: von unsterblichem Ruhm. Dafür ist er zu jedem Opfer bereit. Das liest sich nicht mehr so rauschhaft nah wie Knausgårds erste Serie. Der Sog, den der Roman zu erzeugen vermag, ist dennoch beachtlich.
Ihr Protagonist, der Künstler Kristian, schliesst einen Pakt mit dem Teufel, um ein Star zu werden. In der zeitgenössischen Literatur sind Sie das auch. Was war Ihr Pakt mit dem Teufel?
Ich würde mich nicht als Star bezeichnen – Kristian ist auf einer ganz anderen Ebene des Erfolgs. Ich glaube, ich habe keinen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Aber nachdem ich «Min Kamp» geschrieben hatte, war es trotzdem die Hölle.
Die Bücher waren grosse Erfolge. Inwiefern war es die Hölle?
Als ich meine ersten beiden Bücher schrieb, war ich unschuldig. Da flossen nur meine Gedanken hinein. Ich habe damit niemandem weh getan. Dann kamen die neuen Bücher, und das war wie ein Sturm in Norwegen. Wirklich. Meine Geschichte war sogar in den Nachrichten.
Haben Sie – inmitten dieses Sturms – bereut, die Bücher publiziert zu haben?
Die Reaktion auf die ersten Bücher hat mich erschreckt. Ich schrieb damals ja noch an den drei Fortsetzungen und hatte nicht mit diesem Sturm gerechnet. Nicht einmal mit grossem Erfolg.
Tatsächlich nicht?
Nein, es war eher ein Experiment. Als ich dann aber wusste, was die Bücher auslösten, musste ich mich entscheiden: Mache ich trotz allem weiter oder nicht? Und ich entschied mich, weiterzumachen. Egal, wie wütend die Leute um mich waren. Also lautet die Antwort: Nein, ich habe es nicht bereut. Es war kein Pakt mit dem Teufel. Aber es war eine Art Kreuzung aus Ehrgeiz und dem bewussten Übertreten einer Grenze, die man nicht überschreiten sollte.
Die Familie Ihres Vaters wollte die Bücher gerichtlich verbieten lassen. Ihre damalige Frau, die an einer bipolaren Störung leidet, musste in die Klinik. Schliesslich zogen Sie mit Ihrer Familie von Norwegen nach Schweden um – Sie flohen vor dem, was Sie mit Ihren Büchern ausgelöst hatten. War es also doch ein Fehler?
Ich sage nicht, dass es falsch war, diese Bücher zu schreiben. Ich sage nur, dass das mein Konflikt war: Gebe ich meinem Ehrgeiz nach, oder schütze ich meine Familie? Und dieser Konflikt hat auch mein Interesse an der Beziehung zwischen Kunst und Freiheit geweckt.
Bedeutet das Übertreten von Grenzen für Sie Freiheit?
Ich wollte nie etwas anderes als Schriftsteller werden. Darum habe ich schon früh Biografien über Schriftsteller und Künstler gelesen. Daraus hatte ich dieses Bild des Schriftstellers als Genie und als freier Mensch gelernt. Er kann tun, was er will. Es gibt keine Verantwortung.
Wir sprechen also vom männlichen Schriftsteller.
Genau. Für Schriftstellerinnen ist es natürlich anders, schwieriger. Aber für männliche Autoren sind die Bindungen lose, so stellte ich mir das vor. Sie können tun, was sie wollen. Das ist Freiheit.
Ist das bis heute Ihre Definition von Freiheit?
Nein. Aber das ist es, was das neue Buch, «Die Schule der Nacht», irgendwie erforscht: die Kosten der Freiheit. Verantwortung und Rücksicht sind Kristian, dem Protagonisten, fremd. Er entscheidet sich nicht bewusst dagegen, es ist ihm einfach egal. Darum ist er frei.
Sie beschreiben Kristian, diesen freien Menschen, als absolut unerträgliche Person. Er ist, man kann es nicht anders sagen, ein Arschloch. Ist das der Preis für echte Freiheit?
Als ich das Buch vor zwei Jahren zu schreiben begann, hatte ich kein konkretes Vorbild für diese Figur. Erst als ich fertig war, sah ich den Film «The Apprentice», der von Donald Trumps jüngeren Jahren handelt, als er in seinen Zwanzigern und Dreissigern war, in New York. Er ist da noch nicht Trump, er hat immer noch menschliche Qualitäten. Aber er ist unglaublich narzisstisch und skrupellos. Und er ist all das, was Kristian ist. Darum habe ich wohl eine trumpeske Figur geschrieben. Trump selbst würde bestimmt sagen, er sei frei.
In Ihrer «Morgenstern»-Reihe, deren vierter Band «Die Schule der Nacht» ist, verschiebt sich die Realität durch das Auftauchen eines neuen Sterns. Mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, mit Trump in den USA und den vielen gesellschaftlichen Verschiebungen fühlt es sich gerade an, als wäre ein solcher Stern, der die gesamte Atmosphäre verändern kann, auch in dieser Welt erschienen. Ist das für Sie als Schriftsteller inspirierend?
Die Frage treibt mich selber um. Ich bin kein Autor, der über das Weltgeschehen schreibt. So sehe ich mich nicht. Gleichzeitig habe ich durch das Leben und Schreiben eine Verbindung zu dem, was um mich herum passiert. Die Welt in «Min Kamp» zum Beispiel war solide. Nur mein Privatleben war instabil und chaotisch. In der «Morgenstern»-Serie ist die Welt viel unsicherer. Man weiss nicht wirklich, was vor sich geht. Das zeigt: Wenn man ein Buch schreibt, schreibt man immer auch die Gegenwart hinein. Selbst wenn der Plot im 17. Jahrhundert angesiedelt ist. In den neunziger Jahren habe ich mich nie gefragt, wie das alles noch enden wird. Jetzt schon.
Hat die damals von Ihnen empfundene Robustheit der Welt Ihnen den Mut gegeben, Ihren ersten Romanzyklus «Min Kamp» zu nennen – oder würden Sie das auch heute noch wagen?
Wenn einer sein Buch «Mein Kampf» nennt, ist das ein grosses «Fuck you» an die Welt. Ein «Mir ist alles egal – ich mache, was ich will». Mein Lektor riet dringend davon ab. Aber mir gefiel und gefällt die eigentliche Bedeutung des Titels; von meinem Lebenskampf zu schreiben, darum ging es ja. Damals war diese Provokation in Ordnung. Heute fühlt es sich anders an. Ich glaube, jetzt würde ich den Titel nicht mehr verwenden.
Haben Sie damals auch Hitlers Buch gelesen?
Ja. Ich fühlte mich dazu verpflichtet. Aber es war unangenehm, weil da ein schlechter Schriftsteller so schreibt, als wüsste er alles. Interessant fand ich, was er über Propaganda zu sagen hatte. Darüber, wie man sie betreibt: Man wiederholt eine Lüge, immer und immer wieder, und irgendwann glauben sie die Leute. Heute machen Putin und Trump genau das auch. Und Musk macht den Hitlergruss. Damit hätte ich nicht gerechnet. Es ist beängstigend.
Ist Ihnen Ihr grosser Erfolg eigentlich in den Kopf gestiegen?
Als ich jung war und mein erstes Buch herauskam, wurde es ein Erfolg, und ich war wie besessen davon. Ich habe alles über mich gelesen, und diese Besessenheit wurde zu einem sehr unangenehmen Teil von mir. Was andere über mich dachten, nahm viel Raum ein in meinem Leben, und das laugte mich aus. Ich war sehr empfindlich gegenüber Kritik.
Steckt in Ihnen ein People-Pleaser?
Natürlich. Ich kämpfe sehr damit. Darum lese ich keine Interviews und Rezensionen mehr. Ich weiss auch nicht, wie viele Bücher ich verkaufe. Am Tag der Veröffentlichung eines neuen Buches rufe ich meinen Lektor an und frage, wie es gelaufen ist. Er fasst dann die Resonanz für mich zusammen.
Gibt es etwas anderes als das Schreiben, von dem Sie träumen?
Malen vielleicht. Aber nein, das kann ich nicht. Nein, ich glaube, das gibt es nicht mehr. Ich habe für mich längst das Richtige gefunden.
Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand-Verlag, München 2025. 672 S., Fr. 39.90.