Das Herzstück des Locarno Film Festival ist Segen und Fluch zugleich.
Sie ist gesäumt von Arkaden, alten Bürgerhäusern und ein paar Bausünden. Gefüllt ist diese Piazza mit Träumen und gepflastert mit Steinen aus der nahen Maggia: Vor genau zweihundert Jahren wurde dieser Boden verlegt. So ist im Herzen von Locarno einer der grössten Stadtplätze der Schweiz entstanden, grösser als Zürichs heutiger Stolz, der Sechseläutenplatz.
Inzwischen zieren die langgezogene Piazza Grande Banknoten und Briefmarken, im Juli wird darauf gerockt, im Advent eisgelaufen und zur Fasnacht in riesigen Töpfen Risotto gerührt. Ihre Berühmtheit aber verdankt die 17 000-Quadratmeter-Fläche dem Locarno Film Festival, dessen 78. Ausgabe am Mittwochabend eröffnet wird: Zum 55. Mal dient sie ihm als Freiluftkino. Doch was macht dessen Faszination aus?
Der Segen
Mit achttausend Filmbegeisterten unter dem Sternenhimmel gebannt auf eine Leinwand zu blicken, gerahmt von gespenstisch erleuchteten Fassaden, ist eine Erfahrung von überirdischer Kraft. Da wird das Kino gefeiert, als wäre es soeben geboren worden — selbst in Zeiten, in denen es angesichts gähnend leerer Säle wieder einmal für tot erklärt wird.
Das Erlebnis führt abends die tagsüber verstreuten Festivalgäste zusammen wie der Sonntagsgottesdienst eine Dorfgemeinschaft. In dieser Kathedrale des Kinos flutet das Licht aus einem gigantischen pechschwarzen Projektor. Er schickt vor jeder Vorführung den brüllenden Leoparden über die Leinwand, dessen heissen Atem das mit Fächern bewehrte Publikum im Nacken zu spüren glaubt, bis sich die Haare leicht aufstellen.
Manchmal lässt die Raubkatze ihr Alter Ego frei, den schwarzen Panther, und reale Fledermäuse tanzen über der Menge. Und manchmal schickt der Himmel ein Gewitter. Bis anhin haben das noch alle überlebt. Vor den Unwettern warnt das britische Reiseportal «Time out», das die Piazza Grande dennoch in seine Rangliste der dreissig schönsten Open-Air-Kinos aufgenommen hat – auf Rang elf, direkt hinter einem mickrigen Pendant unter Palmen an einem Strand auf Ibiza.
Der Hauptplatz von Locarno ist ein nationales Heiligtum, das zeigt ein lokaler Streit, der sich jüngst daran entzündet hat: Mit einer Online-Petition wird der Entscheid der Festivalleitung bekämpft, aus Kostengründen mit der Leinwand auch deren historisches Gerüst zu ersetzen. Für diese Neuerung gibt es gute Gründe, aber kommuniziert wurde sie schlecht. Das Team um Präsidentin Maja Hoffmann, die in einem Interview neulich das Ende der Demokratie nahen sah, bewies damit wenig Gespür für deren Mechanismen.
Keine Bange, kleiner ist die neue Leinwand nicht. Ihre gigantische Dimension ist ein Gegenentwurf zum winzigen Touchscreen, auf den heute Inhalte gestreamt werden. Statt maximale Zerstreuung zu suchen, harrt man vor ihr aus und taucht in die Einheit von Zeit und Raum ein, bis zum süssen oder bitteren Ende.
Allerdings sind immer wieder Fluchtreflexe zu beobachten, mitten in Vorführungen. 2019 etwa mutete die Französin Lili Hinstin, deren Direktionszeit nur zwei Ausgaben dauern sollte, dem Publikum Samuel Benchetrits bizarren «Chien» zu, in dem ein Mann zum Hund wird. Noch ehe das erste Blut floss, flohen ältere Leute in Scharen. Im selben Jahr wurde Quentin Tarantinos «Once Upon a Time in . . . Hollywood» generationenübergreifend gefeiert auf der rappelvollen Piazza, so dass man geneigt war, wieder ganz an die verbindende Kraft der Filmkunst zu glauben.
Der Fluch
Der Fluch der Piazza Grande, der schon manche scheitern liess, verbirgt sich in ihrem Zauber: Man darf sich nicht auf diesen verlassen. Nicht umsonst erinnert ihre Form an ein Filetstück, über ein Drittel der Festivaleintritte entfällt auf diesen Vorführort. Seine Programmierung prägt, mehr noch als der Hauptwettbewerb, die öffentliche Wahrnehmung des Filmfests. Dieses ist bekannt dafür, dem Publikum nicht bloss Zucker zu geben, doch auf der Piazza will man weder gepeitscht noch gelangweilt werden. Und als Giona A. Nazzaro vor vier Jahren bei seinem Einstand als künstlerischer Direktor gleich die rasend blutige Hollywood-Farce «Bullet Train» über den Platz schickte, wurde ihm zu Recht vorgeworfen, sein Faible für krude Action am falschen Ort auszuleben.
Nazzaro hat sich inzwischen nicht nur einen Guru-Vollbart zugelegt, er hat auch dazugelernt. Beim Medienanlass zur Ausgabe 2025 schenkte er der Piazza mehr Aufmerksamkeit als auch schon. Und er springt über seinen Schatten, indem er diverse Werke einbezieht, die in Cannes für Aufsehen sorgten. Das Gros des Publikums will einfach gute Filme sehen, auch wenn sie ihre Premiere anderswo hatten: Der Piazza-Höhepunkt des Jahres 2023 war «Anatomie d’une chute», zuvor in Cannes mit der Palme-d’Or-gekrönt. Nun wird der diesjährige Siegerfilm gezeigt, «Un simple accident», dessen iranischer Regisseur Jafar Panahi erwartet wird. Und am ersten Samstag läuft der Gewinner des Grossen Preises der Cannes-Jury, «Sentimental Value» von Joachim Trier.
«Der tiefe Sinn der Piazza Grande liegt nicht nur in der grossen Leinwand und den Filmen, sondern in einer Gemeinschaft von Leuten, die zusammen eine bessere Welt träumen», so philosophiert Nazzaro. So kann man diesen Platz in mehrfacher Hinsicht als schönste Projektionsfläche der Kinowelt sehen, wobei vor allem nach Mitternacht auch Albträume gespiegelt werden: Diesen Sonntag läuft in der zweiten Session Stanley Kubricks Horrorklassiker «The Shining» (1980), als Stargast ist die legendäre italienische Kostümbildnerin Milena Canonero angekündigt.
Ja, zur Faszination der Piazza gehören die Auftritte der Filmleute, und selbst die berühmtesten lässt es nicht unberührt, in dieser Kulisse auf die Bühne zu treten. Meg Ryan entfuhr 2018 ein «It’s so beautiful!», Matt Dillon stammelte 2022 halb schockiert, halb hingerissen: «It’s pretty spectacular, I must say.» Ganz zu schweigen von den skurrilen Auftritten weniger bekannter Filmleute wie einem japanischen Regisseur, der im Jahr 2011 brüllend helvetische Errungenschaften pries, bis rundherum die Hausmauern bebten: «Fondue: Ottimo!» «DJ Bobo: Ottimoooo!», «Locarno: Ooooottiiiimmoooo!».
Ob der Funke der Gäste aufs Publikum überspringt oder nicht, ist unabhängig von deren Ruhm. Und der langjährige Festivalpräsident Marco Solari pflegte den Rufen nach mehr Glamour mit dem Mantra zu begegnen, in Locarno sei der Film der Star. Die Starparade dieser Ausgabe jedoch ist, vielleicht auch dank dem internationalen Beziehungsnetz seiner Nachfolgerin Maja Hoffmann, prominenter besetzt als auch schon. Auf der Piazza werden etwa Emma Thompson, Lucy Liu und Jackie Chan, dessen Klassiker «Police Story» gezeigt wird, Ehrenleoparden entgegennehmen.
Der Tagtraum
Und der brillante Willem Dafoe wird am Donnerstag zur Vorführung von Miguel Ángel Jiménez’ Romanadaption «The Birthday Party» erwartet, in dem er einen exzentrischen Milliardär in Griechenland gibt. Es ist eine von hundert Weltpremieren des gut 220 Filme umfassenden Programms, das viel deutsches und kaum helvetisches Schaffen spiegelt. Dessen Ehre rettet vor allem die Westschweiz: Die packenden zwei ersten Folgen von Jean-Stéphane Brons Polit-Miniserie «The Deal» laufen auf der Piazza, die restlichen vier dann in den Sälen. Und Fabrice Aragnos «Le Lac» misst sich im internationalen Wettbewerb mit 17 Filmen aus aller Welt, darunter die Komödie «Dracula» von Radu Jude, dem rumänischen Locarno-Habitué.
Es gebe in dieser Ausgabe einiges zu lachen, verspricht Nazzaro: Locarno bringe nur todernste Filme, werde immer wieder behauptet. Er will Lockerheit mit Anspruch paaren, betont aber auch, dass man in keinem Vakuum arbeite, sondern im Bewusstsein um die schwierige Weltlage. Dazu passt, dass sich die Stadt heuer zum 100-Jahr-Jubiläum der Friedenskonferenz von Locarno als «Città della Pace» anpreist und am Festival erstmals ein Friedenspreis verliehen wird.
Ihren ganz eigenen Frieden entfaltet die Piazza Grande nachmittags, im Kontrast zu ihren nächtlichen Filmfesten: Vor der blütenweissen Leinwand dösen tagträumend die verwaisten gelben Stühle, sie erholen sich von der Last der Leiber, die sie abends mitunter fast erdrücken. Vor wenigen hundert Jahren, als der Lago Maggiore bis hierher reichte, lag diese Fläche noch unter Wasser. Heute besteht ihre Sedimentschicht aus Sehnsüchten, die geweckt werden, wenn nachts die Leinwand erwacht.