Eine neue Analyse berechnet, wie viele Long-Covid-Patienten es in Deutschland gibt. Betrachtet wird der Zeitraum 2020 bis 2024. Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Es klingt nach erschreckend viel: Mehr als 63 Milliarden Euro musste Deutschland für die Erkrankungen Long Covid und chronisches Fatigue-Syndrom letztes Jahr zahlen. Das sind 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Es fallen zum einen direkte Behandlungskosten an. Zum anderen kommt es wegen ausgefallener Arbeitstage sowie Rentenansprüchen zu einer verminderten ökonomischen Wertschöpfung. Angesichts der hohen Summe stellt sich die Frage, wie realistisch diese Analyse ist.
Long Covid bedeutet, dass auch Monate nach einer Corona-Infektion zahlreiche gesundheitliche Beschwerden in diversen Organen bestehen bleiben. Manche Patienten entwickeln eine sehr schwere Form, die einer ME/CFS ähnelt. Die Abkürzung steht für myalgische Enzephalomyelitis / chronisches Fatigue-Syndrom. Sie haben starke Schmerzen, sind dauerhaft enorm erschöpft und können das Bett kaum verlassen. Oftmals bleiben die Probleme lebenslang bestehen. Auch andere Viren können ME/CFS auslösen, es gab diese Erkrankung also schon vor der Corona-Pandemie.
Die Kostenanalyse ist am Dienstag am ME/CFS-Kongress in Berlin präsentiert worden. Wissenschafter der Firma Risklayer haben zusammen mit Forschern aus Karlsruhe und Australien sowie Mitarbeitern der ME/CFS Research Foundation die umfangreiche Modellierung erstellt.
Wie viele Patienten gibt es?
Ein Problem bei der Berechnung der Kosten sind die fehlenden handfesten Daten zu den Patientenzahlen. Die Studienautoren haben daher Angaben zu Corona-Infizierten aus mehreren Quellen in ihre Berechnungen einfliessen lassen.
Ebenso beachtet wurden wissenschaftliche Veröffentlichungen über das Risiko, nach einer Corona-Infektion Long Covid oder ME/CFS zu bekommen. Das Modell wurde unter anderem mit folgenden Parametern gefüttert: Sechs bis elf Prozent aller Infizierten entwickeln nach der ersten Ansteckung Long Covid. Eine weitere Infektion führt nur noch bei einem Prozent der Betroffenen zu der Erkrankung. Vier von fünf Patienten erholen sich innert eines Jahres. Gut drei Prozent der Menschen mit Long Covid entwickeln die schwerste Ausprägung mit Symptomen wie bei ME/CFS.
Laut den Berechnungen gab es Ende 2024 in Deutschland gut 870 000 Long-Covid- und 650 000 ME/CFS-Patienten. Sollten diese Zahlen stimmen, dann gäbe es in Deutschland nicht nur insgesamt weniger Long-Covid-Patienten als in den USA, sondern die Erkrankung träte hierzulande auch seltener auf. Weltweit leiden schätzungsweise 400 Millionen Menschen darunter.
Ähnlich hohe Kosten in anderen Ländern
Im zweiten Schritt wurden dann die Kosten berechnet. Hierfür verwendeten die Forscher eine Methode aus der Katastrophenforschung. Dabei wird modelliert, welche Kosten ein Ereignis verursacht. Da es keine wirklich heilende Therapie, weder gegen Long Covid noch gegen ME/CFS gibt, entstehen die Kosten bei diesen beiden Erkrankungen vor allem durch den Verdienstausfall.
«Die verwendeten Datenquellen sind gut und die Modellierungen somit verlässlich», sagt die Ärztin Claudia Ellert. Wegen ihrer eigenen Long-Covid-Erkrankung befasst sie sich seit Jahren mit vielen Aspekten und den wissenschaftlichen Grundlagen der Krankheit. «Es wurde jeweils sehr konservativ modelliert, also nicht mit übertriebenen Zahlen hantiert.»
Ihre Einschätzung wird bestätigt durch einen Vergleich mit früheren Studien und Modellierungen zu Long Covid aus anderen Ländern. So kam letztes Jahr ein Team aus den USA zum Schluss, dass die Kosten von Long Covid weltweit ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen.
Betrachtet man nur Long Covid, so betrugen die Gesamtkosten in Deutschland laut der neuen Risklayer-Analyse im letzten Jahr 0,75 Prozent des BIP. Eine internationale Studie hat für Frankreich, Spanien, Grossbritannien und die USA Kosten von jeweils 0,5 bis 0,6 Prozent ausgerechnet. Dabei wurden allerdings nur verlorene Arbeitsstunden erfasst. Da für die neue Modellierung mehr Punkte berücksichtigt wurden, ist es plausibel, dass die Gesamtkosten etwas höher ausfallen. Für die Schweiz liegt keine derartige Analyse zu den ökonomischen Kosten von Long Covid vor.
Die Kosten von ME/CFS werden in der neuen Studie allerdings um den Faktor zwei bis drei höher angegeben als in früheren Analysen. «Ich denke, dass die neue Analyse insgesamt am oberen Rand der Skala liegt, sich aber nicht in der Dimension irrt», sagt Alexander Haering vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Er ist spezialisiert auf Gesundheitsökonomie und forscht ebenfalls zu den Auswirkungen von Long Covid.
Was eine Grippewelle kostet
Die Zahlen für die beiden Erkrankungen erscheinen zwar auf den ersten Blick hoch. Sie sind aber im Gesundheitswesen keine Ausnahme. So hatten Ökonomen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft 2022 berechnet, dass eine intensive Welle von Atemwegserkrankungen im Winter die Bundesrepublik zwischen 20 und 40 Milliarden Euro kostet. Und psychische Erkrankungen, die ja oftmals ebenso wie Long Covid chronisch sind oder zumindest lange anhalten, verschlingen jedes Jahr 147 Milliarden Euro, knapp 5 Prozent des BIP.
Für die ME/CFS-Expertin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité verdeutlicht die neue Analyse die Belastung, die Long Covid und ME/CFS für die Gesellschaft darstellen. Damit zeige sich auch, wie wichtig die Entwicklung einer wirklich wirksamen Therapie sei.