Claudio Monteverdis «L’Orfeo» beschwört gleich zu Beginn der europäischen Operngeschichte die visionäre Macht der Musik über den Tod. Doch Evgeny Titov will in seiner pessimistischen Lesart am Opernhaus nichts mehr davon wissen.
Wahrscheinlich ahnten die illustren Herrschaften nicht, dass sie gerade einem Kulturereignis ersten Ranges beiwohnten. Woher hätten sie es auch wissen sollen: Das, was da am 24. Februar 1607 im herzoglichen Palast von Mantua vor ihren Augen ablief, war nämlich ein gewagtes Experiment. Da traten Menschen auf, scheinbar wie in einem Schauspiel; doch statt zu sprechen, sangen sie. Schon das war unerhört. Gleichzeitig verkörperten sie auf der Bühne Figuren aus Fleisch und Blut, deren Schicksal, nun verstärkt durch den Gesang, unmittelbar zu Herzen ging. Wir können uns kaum noch einen Begriff davon machen, wie ungewöhnlich dieser Vorgang gewirkt haben muss. Denn seit über vierhundert Jahren nennen wir das seltsame Schauspiel schlicht: Oper. Die überwiegend adligen Besucher in Mantua jedoch erlebten deren Geburtsstunde mit.
Knapp 370 Jahre später ereignet sich ein ähnliches Wunder in Zürich. Am hiesigen Opernhaus bringen der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle und der Dirigent Nikolaus Harnoncourt ebenjenes Werk erneut zur Aufführung, das seinerzeit im Italien der Spätrenaissance für so viel Furore gesorgt hat: Claudio Monteverdis «L’Orfeo». Doch anders als bisher üblich, dirigiert Harnoncourt diese Favola in Musica nicht in einer Bearbeitung. Stattdessen lässt der Pionier der historischen Aufführungspraxis so exotische Instrumente wie Krummhörner, Chitarroni, Sackbutts und Tischorgeln auf die Hörer los. In dem Moment wird die Oper gleichsam zum zweiten Mal geboren, denn die originalgetreue Wiedergabe beweist, dass das verrückte Projekt der Mantuaner Accademia degli Invaghiti, der «Akademie der Vernarrten», noch heute mindestens so aufregend klingen kann wie eine Oper von Mozart oder Wagner.
Der Zyklus mit allen drei vollständig erhaltenen Bühnenwerken Monteverdis, den Harnoncourt und Ponnelle während der 1970er Jahre in Zürich realisieren, hat Aufführungsgeschichte geschrieben. Er markiert einen international ausstrahlenden Schlüsselmoment in der Geschichte des Opernhauses. Seither gehöre Monteverdi zu dessen «DNA», so verkündet es stolz die Website. Allerdings bedeutet dies auch eine Verpflichtung. Und man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass Monteverdi während der mittlerweile zwölfjährigen Intendanz von Andreas Homoki im Zentrum der Zürcher Programmplanungen gestanden hätte. Der Intendant räumt dies auch offen ein. Dennoch hat sich nun, wie nebenbei, mit einer Neuproduktion des «Orfeo» am Pfingstwochenende doch noch ein vollständiger Zyklus gerundet.
Apokalyptisch
Dieses «wie nebenbei» ist ein wenig das Leitmotiv, aber auch das Problem der Inszenierung von Evgeny Titov, der in Zürich zuletzt George Benjamins Oper «Lessons in Love and Violence» mit viel Mut zur Zuspitzung auf die Bühne gebracht hat. Im Vergleich dazu ist seine jüngste Arbeit deutlich zurückhaltender. Die Regie läuft handwerklich sauber ab, wenig ist verkehrt an diesem Abend. Gleichwohl vermittelt er nicht einmal eine Ahnung von dem Pioniergeist, der seinerzeit die Zürcher Revision des Monteverdi-Bildes vor der Musikgeschichte beflügelte. Auch von der Opulenz und dem geistreichen Spiel Ponnelles mit dem Barocktheater – zum Glück in Aufzeichnungen bewahrt – ist in Titovs Lesart nichts zu sehen.
Vermutlich muss solch ein klarer Bruch sein, denn es geht ja nicht um ein Revival des Revivals von einst – auch wenn es vor 2020 aufschlussreiche Versuche gegeben hat, vergleichbar bedeutende Produktionen aus früheren Dekaden neu zu beleben. Titov verfolgt dagegen ein eigenständiges Konzept. Bei ihm muss der mythische Sänger Orpheus, der mit der Macht der Musik den Tod besiegen und seine Geliebte Eurydike aus der höllischen Unterwelt zurückholen will, zwangsläufig scheitern. Die Hölle ist denn auch kein finsterer, ferner Unort – die Hölle ist er sich selbst, sie kreist gewissermassen in seinem Kopf.
Schrecklich finster ist es auf der Bühne trotzdem. Um die existenzielle Verzweiflung des Sängers in Bilder zu übersetzen, haben Chloe Lamford und Noemi Daboczi massive Berge von schwarzem Flysch auf die Bühne gewuchtet, überall liegen Gesteinsbrocken herum – das sieht aus, als sei hier mindestens ein Vulkan oder gleich die Apokalypse ausgebrochen. Ein wenig erinnert dies an die ähnlich dystopische Regie, die David Bösch schon 2014 in München mit Christian Gerhaher in der Titelrolle realisiert hat. Schwarz, überall Schwarz – selbst die Augen der Mitwirkenden sind dunkel umrandet.
Ein von Orpheus ausgehobenes Grab schafft symbolisch die Verbindung in die Unterwelt, doch den Gang in Plutos Reich könnte er sich eigentlich sparen – er ist ja offensichtlich längst dort. Auch seine Eurydike ist zu Beginn bereits tot. Das mutige Rettungswerk des Sängers, eines der grossartigsten Motive der europäischen Kultur, bleibt hier eine rein künstlerische Imagination, die von der Realität zunichtegemacht wird. Die Erkenntnis seines Scheiterns lässt Orpheus am Ende zur Pistole greifen.
Absurder Widerspruch
Das ist konsequent, aber platt. Monteverdis Librettist Alessandro Striggio verfährt poetischer, wenn er am Schluss mit dem Künstlergott Apollo einen klassischen Deus ex Macchina aus den Kulissen zaubert, der den desillusionierten Sohn kurzerhand in den Himmel entrückt: auf dass er fortan dort die Geliebte in Gestalt der Sonne und der Sterne besinge. Evgeny Titov ist der Glaube an die Macht der Kunst offenbar gründlich abhandengekommen. Man mag das angesichts der Zeitläufte nachvollziehbar finden – entsetzlich pessimistisch wirkt es dennoch.
Überdies entsteht ein absurder Widerspruch zu dem sehr mächtigen Kunstzauber, der den ganzen Abend aus dem Orchestergraben dringt. Ottavio Dantone lässt die Musik am Pult des hauseigenen Originalklang-Ensembles La Scintilla blühen, sprechen, singen, klagen und sorgt damit für deutlich mehr Licht in der Finsternis. Neben dem von Marco Amherd sehr stilkundig einstudierten Hauschor gewinnt vor allem Krystian Adam in der Titelrolle Profil.
In seinen leidenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Caron, der hier in der seltsamen Anmutung einer singenden Höllenpforte erscheint, und dann mit Pluto selbst (Mirco Palazzi, in einer Doppelrolle) lässt er uns tief in die Seele dieses Künstlers blicken. Aufrecht wie Albert Camus’ existenzialistisch gedeuteter Sisyphos kämpft dieser Orpheus seinen aussichtslosen Kampf. Auch den fatalen Blick auf Eurydike, der sie für immer ins Totenreich schickt, wirft er voller Stolz und Selbstbewusstsein.
Mit dieser Grösse im Scheitern überstrahlt der Sänger die triste Regie. Stimmlich könnte Adam diesen Kontrast und seinen engagierten Vortrag allerdings durch mehr Farben noch eindringlicher machen. Stattdessen dunkelt er seine biegsame Tenorstimme so stark ab, dass er stellenweise wie ein düster-verzweifelter Bariton klingt. Das passt dann doch wieder zur Regie. Es gibt einfach kein Entrinnen aus dieser Unterwelt.