Franz Welser-Möst und Rafael Payare werden beim Frühjahrsfestival in Luzern zu Rettern in der Not. Vor allem der ehemalige Musikdirektor der Oper Zürich beweist bei Beethoven eine ausgesprochen glückliche Hand.
Sie gilt als das Fest- und Feierstück schlechthin: Wo immer es etwas Grosses zu bejubeln gibt, wird zumeist Beethovens Neunte aufgeführt. Nicht selten bekommen Anlässe durch die Wiedergabe dieser Sinfonie erst die rechte Weihe, mindestens aber einen offiziösen Anstrich. Doch was geschieht, wenn es gar nichts zu feiern gibt? Läuft Beethovens himmelstürmendes Werk mit seiner Versöhnungsbotschaft «Alle Menschen werden Brüder» dann ins Leere?
Tatsächlich hat man sich so sehr daran gewöhnt, dass die 9. Sinfonie seit zweihundert Jahren für alle möglichen und unmöglichen Gelegenheiten herhalten muss, dass es fast schon irritiert, wenn das Werk einmal als klassische Sinfonie im Rahmen einer Konzertreihe aufgeführt wird – wie jetzt am Lucerne Festival im Frühjahr.
«O Freunde, nicht diese Töne!»
Einen äusseren Grund gab es nicht – sieht man einmal davon ab, dass es sich bei diesem vorösterlichen Konzertwochenende des Lucerne Festival Orchestra (LFO) um das letzte Frühjahrsfestival des scheidenden Intendanten Michael Haefliger handelte. Der begeht seinen Abschied – nach dann 26 Jahren an der Spitze der wichtigsten Schweizer Musikfestspiele – allerdings erst Mitte September mit einem als «Les Adieux» betitelten Finale. Und die derzeit besonders chaotische Weltlage scheint auch nicht dazu angetan, den «Götterfunken» allgemeiner Freude zu besingen. Gerade das Fehlen eines Anlasses eröffnet bei diesem Werk indes eine seltene Chance.
Man kann die Neunte dann einmal ohne Überbau und auch ohne all den Ballast ideologischer Vereinnahmungen hören, mit denen das Stück namentlich im 20. Jahrhundert befrachtet wurde. Und auch ohne die Fixierung auf den spektakulären Schlusssatz, dessen «Freudenmelodie» Eingang ins kollektive Ohrwurmgedächtnis gefunden hat. Es soll inzwischen vermehrt Konzertbesucher geben, die beim Anhören der vollständigen Sinfonie verwirrt sind, weil Beethoven deren erstem Erscheinen rund fünfzig Minuten anspruchsvollste «andere» Musik vorangestellt hat. Dabei sind diese fünfzig Minuten das Entscheidende, wie Franz Welser-Möst mit dem Festivalorchester im fast ausverkauften KKL verdeutlicht.
Welser-Möst, von 1995 bis 2008 Musikchef der Oper Zürich, war kurzfristig zu diesem Debüt am Pult des LFO gekommen, nachdem dessen Chefdirigent Riccardo Chailly seine Mitwirkung an den Frühjahrskonzerten ein weiteres Mal aus Krankheitsgründen abgesagt hatte. Doch offensichtlich haben Welser-Möst und das Orchester ihre erste gemeinsame Probenarbeit intensiv genutzt: Ihnen gelingt am Sonntagabend eine vorbildlich klare, interpretatorisch genau ausbalancierte Wiedergabe der Neunten. In Welser-Mösts stringenter Lesart ist das Stück wirklich eine Sinfonie in der Tradition der Wiener Klassik, kein Weltanschauungsoratorium mit dreiteiliger musikalischer Vorrede, wie zumeist.
Der Dirigent gibt nämlich jedem der ersten drei Sätze genauso viel Gewicht und formale Bedeutung wie dem Chorfinale, indem er die unterschiedlichen Charaktere plastisch herausmeisselt. Der finstere Kopfsatz wird zum Pandämonium, zum vorerst ausweglosen Ringen mit der Materie. Darauf antwortet das nicht minder fatalistisch getönte Scherzo, das sich hier, mit allen Wiederholungen gespielt, zu einem fast manisch anmutenden Perpetuum mobile auswächst. Erst der überirdische langsame Satz bringt die Wendung. Welser-Möst romantisiert auch hier nichts, die Musik bleibt immer im Fluss, der sehr feine, helle Klang der Streichergruppe des LFO mischt sich wunderbar transparent mit dem der Holzbläser.
Wenn nach dem gelösten Ausklang des Satzes das Finale mit der sogenannten «Schreckensfanfare» hereinbricht, ist das in dieser Aufführung kein Bruch, eher eine letzte Zuspitzung der zuvor in der Musik aufgeworfenen Fragen. Die Herausforderung für die Interpreten besteht nun darin, die Spannung nochmals über eine Entwicklung von gut sechs Minuten hinweg aufzubauen, bis der Solobariton mit seinem Ausruf «O Freunde, nicht diese Töne!» endgültig alle Zweifel beiseitefegt und den Weg frei macht für Schillers Ode «An die Freude».
Welser-Möst spielt in dieser entscheidenden Passage, die den Umschwung ins Positive bringt, seine ganze Erfahrung und insbesondere seinen souveränen Überblick über das Stück aus. So erscheint auch der für die Musikgeschichte wegweisende erste Einsatz von Singstimmen im Rahmen der Sinfonie nicht als Show-Effekt, sondern wie eine zusätzliche Klang- und Sinnebene. Das Solistenquartett, überstrahlt von der Sopranistin Regula Mühlemann, und der MDR-Rundfunkchor fügen sich denn auch ohne opernhafte Theatralität ins Konzept; der von Beethoven so prachtvoll inszenierte Jubel wirkt zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt, vielmehr als bezwingende Lösung der zuvor in der Musik ausgetragenen Konflikte. In solch dramaturgischer Schlüssigkeit gelingt das selten.
Feinzeichner und Energiebündel
Viel Jubel gab es auch schon beim ersten Festivalkonzert am Freitag, bei dem der venezolanische Dirigent Rafael Payare den Stab anstelle von Chailly übernommen hatte. Das Programm mit Beethovens 4. Klavierkonzert und der «Pastorale» nahm sich auf dem Papier arg gängig aus – man hätte sich zumindest eine weitere, vielleicht zeitgenössische Farbe gewünscht; in der Praxis stellte es die Ausführenden aber vor Herausforderungen.
So verlangt gerade das G-Dur-Konzert ein intensives Dialogisieren zwischen dem Soloklavier und dem Orchester. Der japanische Solist Mao Fujita, der 2022 als Last-Minute-Einspringer das Eröffnungskonzert des Luzerner Sommerfestivals rettete, ist ein technisch überragender Pianist. Seine Qualitäten als musikalischer Feinzeichner kann er hier allerdings nur in den verhaltenen Passagen und vor allem in der hingezauberten Rachmaninow-Zugabe ausspielen. Zu einem befreiten Interagieren mit dem Orchester, bei dem einer dem anderen die Ideen und Geistesblitze zuwirft, kommt es dagegen zu selten; auch weil Payare aus Rücksicht auf das introvertierte Spiel Fujitas am Pult eher zurückhaltend Akzente setzt..
Das ändert sich bei der «Pastorale». Hier schickt Payare, der wie Gustavo Dudamel stark durch das Education-Programm «El sistema» geprägt wurde, unablässig Energiewellen ins Orchester. Nicht alle Impulse verfangen, aber der programmatische Aufbau mit dem reinigenden Gewitter als Höhepunkt gelingt mitreissend. Und die Solisten an den ersten Pulten des LFO unterstreichen auch in diesem Jahr, dass ihnen so schnell niemand das Wasser reicht.