Wer heute Musik schreibt, hat fast unbegrenzte technische Möglichkeiten. Doch die Herausforderungen werden dadurch nicht kleiner. Am Composer Seminar in Luzern zeigt sich, wie viel Reflexion und Selbstkritik nötig sind, um etwas Neues und Eigenes zu schaffen.
Was treibt junge Menschen um? Mit welchen Themen beschäftigen sie sich? Und wie reagieren angehende Künstlerinnen und Künstler auf das Hier und Jetzt? Mit ihrem umfassenden Angebot bietet die Lucerne Festival Academy jungen Komponisten, Dirigenten und Musikern seit zwei Jahrzehnten genau für solche Fragen eine Bühne: Hier finden sie gleich mehrere Formate und Podien, um ihr Verhältnis zur Gegenwart künstlerisch zum Ausdruck zu bringen.
In der Praxis gestaltet sich das allerdings weniger einfach als in der schönen Theorie. Beim Abschlusskonzert des von Dieter Ammann und Unsuk Chin geleiteten Composer Seminar und bei einem Akademiekonzert mit dem Titel «Hommage à Pierre Boulez» fiel auf, wie sehr junge Komponisten gerade mit der Vielfalt der Möglichkeiten ringen, die dem zeitgenössischen Musikschaffen beinahe keine ästhetischen Schranken mehr auferlegt. Grenzenlose kreative Freiheit kann nämlich auch überfordern, sofern sie nicht durch Reflexion und Selbstkritik bewusst eingegrenzt wird.
Fortschritt und Freiheit
Die Frage, wie man künstlerisch mit der Freiheit umgeht, ist an sich nicht neu. Aber sie stellt sich verschärft seit dem Siegeszug der Postmoderne, die das Denken in Schulen, Dogmen und Ideologien aufgebrochen und nach und nach beseitigt hat. In Luzern war bei den Werken etlicher Nachwuchstalente jetzt zu hören, wie leicht aus dem vielerorts propagierten «anything goes», also dem Fehlen jedweder Vorgaben, Beliebigkeit werden kann.
Das hat nicht nur mit den vielfältigen technischen Angeboten und Hilfsmitteln zu tun, die das Ausdrucksspektrum für heutige Musikschaffende ins Uferlose erweitert haben. Für den Umgang mit dieser Freiheit ist auch etwas nötig, das im Widerspruch zum Zeitgeist zu stehen scheint, nämlich Selbstdistanz. Und, damit einhergehend, die Bereitschaft, das eigene Schaffen immer wieder infrage zu stellen.
Bei vielen jungen Komponisten spürt man von solch einer skrupulösen Haltung wenig; eher ist das Gegenteil der Fall: Da wird mehrheitlich, wie auch jetzt wieder in Luzern, mit einem Selbstbewusstsein und einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis aufgetreten, als wären alle Fragen bereits gelöst und offen eingestandene Zweifel bloss Zeichen von Schwäche.
Womöglich ist das einer Ausbildung geschuldet, die vor allem die freie Entfaltung fördert, das kritische Denken aber vernachlässigt. Mit solch einer Form der Kuschelpädagogik, die auch in der Komponistenausbildung um sich greift, lässt sich indes der Blick auf die Welt und das eigene Ich nicht schärfen. Bezeichnenderweise hat ausgerechnet der diesjährige Luzerner Composer-in-Residence Marco Stroppa kürzlich im Gespräch mit dieser Zeitung eine Gegenposition bezogen. Seiner Ansicht nach könne man als Komponist nur am Widerstand wachsen.
Stroppa selbst hat diesen Widerstand einst aktiv gesucht und eingefordert: bei Pierre Boulez, der ihn 1982 an das Pariser IRCAM holte. Der Gründer und erste Leiter der Festival Academy hat das kritische Denken nicht nur auf seine eigenen Werke gerichtet, indem er immer wieder revidierte Neufassungen erstellte, sondern auch mit Nachdruck vermittelt. Das belegen Aufnahmen, die Boulez bei der Arbeit mit jungen Talenten zeigen. Es geht dabei zentral um die Frage, inwiefern man anderen ein Korrektiv bietet und ein solches Korrektiv auch für sich selbst zulässt.
Mit dem Problem sehen sich mitunter auch etablierte Komponisten konfrontiert. Unsuk Chin, die Co-Leiterin des Luzerner Composer Seminar, hat dies erst jüngst bei der Uraufführung ihrer Oper «Die dunkle Seite des Mondes» in Hamburg erlebt. Hier hat es offenkundig an einem kritischen Gegenpart – ob durch den Verlag, das Opernhaus oder den mit Chin befreundeten Dirigenten Kent Nagano – gemangelt. Eine beispiellose Bruchlandung war das Ergebnis.
Stroppa hingegen lebt das Ringen mit dem Widerstand der Materie den jungen Komponisten geradezu vor. In Luzern zeigte sich das ganz konkret: Bei der geplanten Uraufführung seines neuen Stücks «far and wee» für Akkordeon und Kammerelektronik war er mit der Akkordeon-Stimme noch nicht zu einem Abschluss gekommen. Stroppa besass die Souveränität, dieses Unfertige auszustellen, indem bei der Aufführung nur die fertiggestellte elektronische Tonspur präsentiert wurde.
Das Experiment war aufschlussreich. Es machte hörbar, dass Stroppa die Technik nicht einfach als Selbstzweck verwendet, sondern in bezwingende Poesie überführt. Die elektronisch erzeugten Klänge und Geräusche bildeten für sich ein organisches Ganzes – ganz anders als bei dem Gros der Uraufführungen der jüngeren Komponisten, die sie überwiegend als punktuellen Effekt einsetzten.
Das Disparate zusammenfügen
Von den insgesamt zwölf Beiträgen war es vor allem Piyawat Louilarppraserts «Dial-a-Boulez» für Orchester und Mobiltelefone, bei dem die eingebundenen Signale eines Handys fast unmerklich Teil des orchestralen Klanges wurden. Nahezu alle anderen Werke folgten einer kompositorischen Haltung, die der Komponist Jörg Widmann einmal als ein «Zusammenfügen von Disparatem» bezeichnet hat.
Besonders auffällig war diese Haltung in Maya Miro Johnsons «Lynchiana». In ihrer Hommage an den Filmregisseur David Lynch für grosses Ensemble kamen auch Megafon, Wasserkocher oder Plattenspieler zum Einsatz; sie blieben allerdings akustisch bewusst als Fremdkörper erkennbar. Auch die anderen jungen Komponisten stellten ihre disparaten Klangmaterialien teilweise collagehaft oder in harten Brüchen aus. Die Idee der Verschmelzung und damit einer übergeordneten ästhetischen Einheit trat zurück.
Vielleicht sollte man darin nicht ausschliesslich ein handwerkliches Defizit sehen. Immerhin hat Jörg Widmann, der ab 2026 die Leitung der Lucerne Festival Academy übernehmen wird, das Nebeneinander von Unvereinbarem bereits in seiner «Babylon»-Oper von 2012/19 und in vielen jüngeren Werken zum Prinzip erhoben. Seine Ästhetik des Disparaten fällt bei vielen jüngeren Komponisten offensichtlich auf fruchtbaren Boden.
Womöglich ist sie damit sogar ein genaues Abbild unseres Hier und Jetzt, in dem politische und künstlerische Positionen oft unversöhnlich nebeneinanderstehen und bewährte Ordnungen tiefgreifend infrage gestellt werden. So gesehen, wäre die Festival Academy wieder einmal näher am Puls der Zeit, als man auf den ersten Blick vermuten würde.