Der 79-jährige Philosoph und Publizist spricht über die Macht der Alten, das Arbeitsethos der Jungen und sein Rezept zur Sicherung der künftigen Renten.
Was geht Ihnen durch den Kopf, jetzt, wo das Resultat der Abstimmung über die 13. AHV-Rente klar ist?
Lauter Fragen. Woher dieser erbitterte Kampf, die Verbissenheit, die Gereiztheit? Jetzt diese triumphale Reaktion? Was ist los im Gemütshaushalt vieler Alter? Die meisten leben doch recht fidel. Rumort da ein Unglück unter der Oberfläche? Eine Art Überflüssigkeits-Koller? Der gesellschaftliche Bedeutungsverlust? Ist die 13. AHV-Rente auch eine Quittung für das zwiespältige Glück, in die Beurlaubung abgeschoben zu sein, in eine gesellschaftliche Passivmitgliedschaft?
Nehmen Sie Ihre Generation erst jetzt so wahr?
Mir war schon vorher klar, dass es in dieser Generation etwas Störrisches gibt. In meinem Bekanntenkreis haben einige sofort Ja gestimmt, als sie den Brief der Altbundesräte bekommen haben. Eigentlich waren sie gegen eine 13. AHV, weil die grosse Mehrheit das Geld nicht nötig hat. Aber dieser Brief hat sie extrem provoziert.
Das hat gereicht für einen Sinneswandel?
Ich glaube, es ist auch der Zeitgeist. Jede Gruppe schaut, dass sie für sich möglichst viel herausholen kann. Es wird quer durch alle Branchen gejammert. Überall sind die Leute überfordert, überall hat es zu wenig Personal, überall wird zu wenig verdient, niemand will zu kurz kommen. Jetzt gehen auch noch die Bauern auf die Strasse.
Ludwig Hasler
Der promovierte Philosoph ist Publizist und Redner. Seine Bücher «Für ein Alter, das noch was vorhat» und «Jung & Alt», ein Briefwechsel mit einer 50 Jahre jüngeren Frau, sind im Verlag Rüffer und Rub erschienen.
Und die alten Menschen?
Es ist paradox: Es ging den allermeisten Alten noch nie so gut wie heute. Wir leben viel länger, wir sind länger fit, unternehmungslustig und lebenshungrig. Das sogenannte dritte Lebensalter ist eine Premiere in der Menschheitsgeschichte. Dass man fast zwanzig Lebensjahre hat, in denen man völlig frei ist, gab es noch nie.
Ist das nur schön? Man wird auch nicht mehr gebraucht.
Der Traum vom Glück im Nichtstun verblasst rasch. Das Alter ist zu einer jahrzehntelangen Siesta geworden. Doch der Charme der Siesta liegt darin, dass nachher noch etwas kommt. Sonst schleicht sich mit der Zeit ein Gefühl von Überflüssigkeit ein. Dagegen wehrt sich der aktive Alte, ein Bild, das medial sehr gepflegt wird. Der aktive Alte ist nur für sich selbst aktiv. Er geht auf Reisen, wandert, fängt an zu biken, geniesst das Leben.
Das klingt egozentrisch.
Tatsächlich dreht sich dabei alles um einen selbst. Sinn erlebt ein Mensch aber, wenn er eine Bedeutung für andere hat. Ich kenne Gleichaltrige, die materiell sehr gut dastehen, sich aber zu Tode saufen, weil sie sich überflüssig fühlen. Wenn ich frage: «Warum tust du das?», antworten sie: «Sag mir, ob es einen Unterschied macht, ob es mich in zwei Jahren noch gibt oder nicht.» Ehrlicherweise muss ich sagen: Nein.
Was sollen die Alten denn machen?
Ehrenamtliche Tätigkeiten. Freiwillige Tätigkeiten. Es gibt alles unter den Alten: die Lustigen, die Kräftigen, die IT-Kundigen, jene, die gerne kochen . . . Macht es doch! Zwei ehemalige Manager haben hier im Dorf den Garten einer kranken Frau übernommen. Die sind glücklich. Plötzlich haben sie das Gefühl, sie würden gebraucht. Der Lebenssinn liegt vor der Haustür, man muss nur nach ihm greifen.
Ist das nicht ein Problem der Nachkriegsgeneration, die alles in den Beruf gesteckt hat? Es ist doch sinnvoll, dass die nachfolgenden Generationen die Arbeit nicht mehr zu ihrem einzigen Lebensinhalt machen wollen.
Ich habe während dreier Jahre mit einer 50 Jahre jüngeren Frau einen öffentlichen Briefwechsel geführt. Die Arbeit war ein Dauerthema in diesem Austausch. Wir konnten uns darüber kaum verständigen, weil die Meinungen meilenweit auseinandergingen. Für meine Generation galt: erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Ich bin 1944 geboren. Wir waren arm. Wir hatten keine andere Wahl. Dieses Arbeitsethos war produktiv, aber auch ein wenig traurig. Man hat das Vergnügen immer auf den Feierabend verschoben, aufs Wochenende, auf die Ferien, die Pensionierung. Das ist bei den Jungen anders. Wobei man unterscheiden muss: Die Generation Y sagte: Warum kann man das nicht mischen? Wir holen das Vergnügen in die Arbeit. Das finde ich toll, das tut auch der Arbeit gut.
Die Generation Z stellt die Arbeit generell infrage.
Sie denkt: Wenn es einreisst, dass uns das Arbeiten Spass macht, dann sind wir verloren. Dann ist unsere Freiheit im Eimer. Die Generation Z hat ein völlig anderes Menschenbild. Als ich jung war, dachte ich nicht: Wie kann ich meine Einzigartigkeit in die Welt hinaustragen? Ich fragte mich: Wo kann ich dazugehören und mit der Zeit meine Perspektive zur Geltung bringen? Das ist heute völlig anders. Die Generation Z ist so aufgewachsen, dass sie sich individuell als etwas Singuläres betrachtet. Sie fragt sich, wie sie diese Einzigartigkeit durchs Leben retten kann. Wenn ich mich also als Zler zu stark auf die Arbeit einlasse, geht meine Einzigartigkeit flöten, sie nutzt sich ab und wird vereinnahmt.
Die Finanzierung der Renten und das Wesen der Arbeit sind zwei Streitpunkte zwischen Jung und Alt. Wo drohen sonst noch Konflikte?
Meine Generation ist alt geworden im Bewusstsein, den Wohlstand kreiert zu haben, den die Jungen jetzt geschenkt bekommen. Insgeheim erwarten wir Dankbarkeit von ihnen. Und was bekommen wir? Prügel, weil wir den Planeten kaputtgemacht haben. Beides hat eine gewisse Berechtigung. Wir Alten haben die Welt seit 1950 enorm vorangebracht. Doch wir sind auch Meister darin, die negativen Folgen des Fortschritts zu ignorieren. Es ist aber auch nicht fair, zu erwarten, dass man immer von Anfang an alle Negativerscheinungen erkennen kann. Die Jungen sehen jetzt vor allem die Dreckseite. Es ist ja nicht so, dass sie keinen Wohlstand wollten. Aber sie wollen den Wohlstand ohne Dreck.
Was bedeutet das für das Verhältnis der Generationen?
Der Generationenkonflikt wird sich zuspitzen. Ich bin erstaunt, dass das noch nicht passiert ist, gerade bei Corona. Während der Pandemie wurde klar, dass sich die Gewichte der Generationen verschoben haben. Plötzlich waren wir Alten die Privilegierten, obwohl wir unser Leben schon im Trockenen haben. Uns kann nichts mehr passieren ausser dem Tod, der ohnehin in der Nähe ist. Um uns zu schützen, sperrte man die Jugendlichen praktisch ein. Sie verhielten sich unglaublich zivil, geradezu liebenswürdig. Nur ein paar Alte reklamierten, weil die Jungen wieder Party machen wollten – als ob sie das nicht müssten. Mich 80-Jährigen können Sie ein Jahr einsperren, das spielt keine Rolle. Aber doch nicht Pubertierende! Die brauchen Auslauf, müssen Gleichaltrige treffen, um sich zu entwickeln. Doch die alte Generation wird immer grösser und mächtiger.
Die Generation AHV diktiert jetzt die Bedingungen?
Ja, und eine neue Studie zeigt, dass die Versorgungs- und Pflegekosten der Alten in den europäischen Ländern bis 2050 46 Prozent des Bruttoinlandprodukts auffressen werden. Das ist Wahnsinn! Die Menschen werden älter und kränker. Die wenigsten über 80-Jährigen sind noch gesund. Viele haben zum Beispiel Krebs und leben damit noch zehn Jahre.
Wie haben Sie im Abstimmungskampf die Debatte zwischen Alten und Jungen erlebt?
Es hat kaum einen direkten Dialog gegeben. Leben wir halt doch in verschiedenen Welten? Bei den Jungen spielt die psychische Gesundheit eine enorm wichtige Rolle. Es geht immer um die Selbstpflege und die Selbstwahrnehmung. Wir Alten wissen gar nicht richtig, was das ist. Wir sind aufgewachsen mit Mottos wie «Was dich nicht umbringt, macht dich stark». Manche Alte haben das Gefühl, nicht mehr verstanden zu werden, sondern nur noch zurechtgewiesen. So etwa nach dem Motto «Okay, Boomer, mische dich nicht ein!». Nicht alle Boomer sind Besserwisser. Solche pauschalen Urteile fördern den Altersegoismus. Die Devise heisst dann: Wenn ihr schon ganz anders sein wollt, dann greifen wir ab, was wir noch können.
Es würde also mehr Dialog brauchen.
Ich rede viel mit Personalchefs. Die schimpfen über die heutigen Jugendlichen. Da kann man schimpfen, so viel man will. Es ist nun einmal die aktuellste Ausgabe der Menschheit. Sie wird auf jeden Fall gewinnen. Wir Alten müssten uns aus Eigennutz für diese Generation interessieren. Wenn wir am Zusammenhalt der Gesellschaft interessiert sind, müssen wir die Jungen dort abholen, wo sie ihre Stärken haben. Auch wir Alten haben nicht alles gut gemacht und hinterlassen die Welt in dem pitoyablen Zustand, in dem sie jetzt ist. Wir dürfen nicht so tun, als hätten wir achtzig Jahre in totaler Rechtschaffenheit verbracht.
Was kann man tun, um die Finanzen wieder ins Lot zu bringen? Ein höheres Rentenalter hat keine Chance, wie wir am Abstimmungssonntag gesehen haben.
Es ist schwierig, die Altersgrenze einfach abstrakt hinaufzusetzen. Mehr als die Hälfte der 58-jährigen Angestellten träumen von Frühpensionierung. Wenn wir das Pensionierungsalter einfach um zwei Jahre erhöhen, sagen wir diesen Menschen: Ihr dürft jetzt das, was ihr heute schon nicht mehr wollt, noch zwei Jahre länger machen! Die Rentenfinanzierung lässt sich nicht nur auf der politischen Ebene lösen. Wir müssen zu den Unternehmen gehen. Bei den KMU ist bereits etwas in Bewegung geraten. Da höre ich von Personen, die in Pension gingen, nach ein oder zwei Jahren wieder anklopften und mit Handkuss wieder eingestellt wurden, zu Bedingungen, die sie aushandeln konnten. Bei den Konzernen ist das völlig anders. Da sind Sie mit 57 Jahren eine Salärnummer.
Was schlagen Sie vor?
Meine Lieblingsidee ist eine Neuetappierung des Arbeitslebens. Der volle Einstieg ins Arbeitsleben würde mit 25 Jahren erfolgen. Dabei darf es schneller gehen als heute. Man muss nicht unbedingt bis 32 studieren oder sogar noch mit 35 Jahren ein Zweitstudium aufnehmen. Die nächste entscheidende Weichenstellung erfolgt dann mit 55 Jahren. Dann sollte man aber nicht an eine Frühpensionierung denken, sondern den Job modifizieren.
Was heisst das konkret?
Es entspricht dem, was man im angelsächsischen Sprachraum als Senior Partner bezeichnet. Der Charme dieser Position liegt darin, dass sie etwas weniger stressig ist. In dieser Lebensphase kommt zum Tragen, was man traditionell als Erfahrung bezeichnet. Gleichzeitig gibt man Verantwortung ab, so dass Jüngere schneller in Führungspositionen kommen.
Dieses Modell funktioniert vielleicht bei Bankern und Anwälten, aber nicht bei Bauarbeitern.
Man muss natürlich berücksichtigen, dass die meisten Handwerker eine andere Ausgangslage haben. Das stelle ich fest, wenn ich einen Dachdecker brauche. Kaum einer ist älter als 50. Wir müssen auch für diese Leute Modelle entwickeln, damit es nicht mit 50 zur Frühpension kommt und jemand dann vierzig Jahre quasi zum Nichtstun verurteilt ist.
Ist es nicht etwas blauäugig, auf Erfahrung zu setzen? Angesichts der Beschleunigung des Wirtschaftslebens spielt gerade dieser Faktor eine immer geringere Rolle.
Ich kenne viele Gleichaltrige, die Erfahrung geringschätzen. Sie sagen, meine Enkel sind viel schlauer als ich. Wenn man nachfragt, stellt man fest, dass sie einfach geschickter auf dem Tablet oder dem Handy wischen können. Eine Enkelin hat vor kurzem das Staatsexamen in Medizin gemacht. Sie ist damit eine perfekt ausgebildete Medizinerin mit viel aktuellem Schulwissen im Rucksack. Eine 63-jährige Ärztin wird bei ihrer Arbeit vielleicht nicht mehr die allerneuste Studie berücksichtigen. Doch während ihres Berufslebens hat sie Tausende von Patienten gesehen und erfahren, wie sie auf Behandlungen reagieren. Das ist Erfahrung, und Erfahrung kann man nicht abkürzen. Es gibt keinen Bachelor in Erfahrung. Erfahrung ist realitätsgesättigtes Wissen.
Wie würde sich der teilweise Rückzug mit 55 lohnmässig auswirken?
Heute verdient jemand, je älter er wird, umso mehr. Das ist doch völlig unlogisch! Man muss dann viel Geld verdienen, wenn man Kinder hat und wenn die Kinder in der Ausbildung sind. Anschliessend muss man zurückstecken. Das würden die Menschen auch in Kauf nehmen, wenn sie Tätigkeiten ausüben könnten, bei denen ihr Erfahrungsschatz gefragt ist.
Sie werden in diesem Jahr 80. Andere Senioren sind in diesem Alter Präsident der USA oder wollen es werden. Bewundern Sie solche Supersenioren, die in der Politik, im Arbeitsleben oder als Kulturschaffende einfach nicht aufhören wollen?
Ich bin ja im selben Spital krank. Auch ich habe Mühe, meine Tätigkeiten zu reduzieren. Manchmal bin ich tatsächlich verschnupft, wenn ich zu gewissen Anlässen nicht als Redner engagiert werde. Es ist urkomisch, denn es ist klar: Mit 80 sollten wir die Kräfte, die wir uns noch zutrauen, auf neue Art fruchtbar machen. Laufe ich mit 80 denselben Bedürfnissen hinterher wie mit 48, werde ich zur Jugendkarikatur. Die ist dann nicht einmal mehr komisch.