Ein Blick in die Mitschrift fördert Verblüffendes zutage: Vor dem Asylkompromiss von damals wurden in Deutschland dieselben Debatten geführt wie heute. Das schärfere Recht von einst läuft heute ins Leere.
Willkommen zu einer kleinen Zeitreise. Es sind die frühen 1990er Jahre, Deutschland hat eine Asylkrise.
Hunderttausende Menschen drängen jährlich ins Land, um einen Asylantrag zu stellen. Knapp 400 000 unerledigte Anträge stapeln sich, die meisten haben keine Erfolgsaussichten. Im Bundestag wird erbittert darüber gestritten, wie dem zu begegnen ist. Die Redebeiträge ähneln verblüffend den heutigen. Daher schalten wir hier einmal in die Plenarsitzung vom 15. Oktober 1992.
Es spricht der Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble: «Es kann nicht sein, dass auf die blosse Behauptung hin, politisch verfolgt zu sein – und sei sie noch so offensichtlich unbegründet –, ein vorläufiges, nicht entziehbares Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt wird, das dann bei einer Zuwanderung von 40 000 bis 50 000 im Monat zu einer ‹Verstopfung› aller Verfahren führt und die Probleme des Asylrechts nicht mehr handhabbar macht.» Man könnte dies eine zutreffende Beschreibung nennen, die auch im Jahr 2025 noch gilt.
An die Adresse der SPD sagt Schäuble: «Ich erinnere an das, was Ihr Parteivorsitzender vorgestern gesagt hat: Wenn wir keine tragfähige Regelung zustande kriegen, werden sich immer mehr Menschen von uns abwenden und ihr Heil bei den unheilvollen Hetzern und rechts aussen suchen. Das müssen wir verhindern. – Soweit Herr Engholm.» Björn Engholm war damals das, was heute Lars Klingbeil ist – SPD-Chef. «Rechts aussen» taugte auch damals schon als Drohszenario. Die SPD ist damals in der Opposition, es regieren Union und FDP.
Das Asylrecht und die Mütter und Väter des Grundgesetzes
Dann spricht der SPD-Fraktionschef Hans-Ulrich Klose. Er bezieht sich auf den Bundeskanzler Helmut Kohl, der das Asylrecht eine «Bringschuld der Deutschen» nannte, und verweist auf Sozialdemokraten, die unter den Nazis selbst zu Asylanten wurden.
«Wie können Sie von uns erwarten, dass wir mit unseren Erfahrungen und den Lehren, die wir daraus gezogen haben, heute, nachdem seit zwei Tagen ein Antrag vorliegt, leicht und schnell Ja sagen zu einer Verfassungsänderung bei diesem Grundrecht, das die Mütter und Väter der Verfassung sehr bewusst so in das Grundgesetz geschrieben haben?», fragt Klose. (Sein Parteifreund Heinrich August Winkler wird diese Annahme 33 Jahre später in einem «Spiegel»-Gastbeitrag in Zweifel ziehen und behaupten, dass das Asylrecht nie als subjektives Recht gedacht gewesen sei.)
Der FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms knüpft direkt daran an. «Die vielzitierten Väter des Grundgesetzes waren mit Recht stolz auf die in ihrer Schlichtheit eindrucksvolle Asylrechtsgarantie in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 unserer Verfassung: ‹Politisch Verfolgte geniessen Asylrecht.› Einfacher und klarer kann man es nicht sagen. Dieser einfache Satz war die Konsequenz aus schlimmen Erfahrungen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.»
Länder und Gemeinden waren auch damals am Limit
Aber, so fährt der Liberale weiter fort, das sei derzeit nicht mehr gewährleistet: «Über 250 000 Flüchtlinge waren es im Vorjahr, fast 320 000 in den vergangenen neun Monaten – mit steigender Tendenz. Dies überfordert Bund, Land und Kommunen, beunruhigt die Bevölkerung und gefährdet in letzter Konsequenz unser aller Gemeinwesen.» Daran hätten die Väter und Mütter des Grundgesetzes so sicherlich nicht gedacht. Im Jahr 2025 sieht es ähnlich aus: 352 000 Asylanträge waren es 2023 und 251 000 im Jahr 2024. Asyl im Sinne des Grundgesetzes bekommen weniger als ein Prozent der Antragsteller. Länder und Gemeinden beklagen seit Jahren, sie seien am Limit und könnten nicht mehr.
Solms fährt fort: «Wer aus einem sogenannten Nichtverfolgerstaat oder aus einem sicheren Drittstaat zu uns kommt, kann nicht mit längerem Aufenthalt rechnen. Dazu gehört, dass die finanziellen Anreize zur Einreise für politisch nicht Verfolgte gemindert werden müssen. Das Sozialhilferecht ist so zu ändern, dass die Leistungen auf das Notwendigste beschränkt werden und dass Geldleistungen weitestgehend in Sachleistungen umgewandelt werden», so der Haushaltspolitiker. «Dazu gehört schliesslich, dass erheblich straffällig gewordene Ausländer aus Deutschland ausgewiesen werden, einerlei, ob sie Asylbewerber sind oder nicht.» Diese Debatte gibt es auch heute wieder, Stichworte Pullfaktoren, Bezahlkarte, Abschiebung von Straftätern.
Ewig grüsst das Murmeltier
Die damalige Debatte im Bundestag wird geprägt von den Themen, die bis heute ungelöst sind: Schlepperkriminalität, gestiegene Zahl von Straftaten durch Ausländer, ausufernde Sozialhilfekosten, der Aufstieg des Rechtsextremismus – alles war schon da. Auch die Asylklagewelle an den Verwaltungsgerichten. Und die Debatte über ein Zuzugsbegrenzungsgesetz. Wer will, kann es hier ab Seite 9 nachlesen. Bundeskanzler war Helmut Kohl, und er hatte kurz zuvor deklamiert, Deutschland sei kein Einwanderungsland. In der gegenwärtigen Situation befürchtet er sogar den Staatsnotstand.
Ein Unterschied: Damals gab es eine Welle von rechtsextremen Gewalttaten an Ausländern, etwa in Rostock-Lichtenhagen und Mölln, wo im November 1992 drei Menschen bei rassistischen Brandanschlägen auf zwei von Türken bewohnte Häuser sterben. Der «rechte Mob» hätte gesiegt, wenn man nun das Asylrecht verschärfen würde, betonten Linke und Grüne im Bundestag. Im Jahr 2025 leidet das Land unter Anschlägen einzelner Syrer und Afghanen mit Messern oder Autos, etwa in Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und ganz aktuell München.
Nach langem Ringen beschlossen CDU/CSU, SPD und FDP am 6. Dezember 1992 den Asylkompromiss, mit dem das Grundgesetz geändert wurde. Der neue Artikel 16a enthält zwar weiter die Garantie eines individuellen Rechts auf Asyl. In seinem zweiten Absatz bestimmt er jedoch seither, dass sich auf dieses Recht nicht berufen kann, wer über ein sicheres Drittland gereist ist. Was damals als Verschärfung angesehen wurde, wird heute vieltausendfach missachtet – nahezu alle Ankömmlinge erreichen Deutschland auf dem Landweg. Sie bekommen trotzdem zunächst Zutritt.
Dass sie an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden können und müssen, wird von Verfassungsrechtlern alter Schule (Rupert Scholz, Hans-Jürgen Papier) schon lange vertreten, von der Bundesregierung jedoch anders gesehen. Wegen der Dublin-Verordnung müsse man zunächst alle Personen einlassen, die an der Grenze Asyl begehrten, tragen Politiker, Juristen und Journalisten unentwegt als Begründung vor.
Auch das Streben nach einer europäischen Lösung ist schon damals Thema, ebenso der «deutsche Sonderweg». Der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters sagt in der Sitzung: «Wir werden es auf Dauer nicht durchhalten, beim Asylrecht einen Sonderweg zu gehen, der uns von den anderen europäischen Staaten isoliert und alle Verhandlungen blockiert, die auf die Harmonisierung des europäischen Asylrechts gerichtet sind.» Das hinderte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 nicht daran, in einem deutschen Alleingang auf die Grenzschliessung zu verzichten. Erst im Mai 2024 wurde unter dem Druck der ungesteuerten Massenmigration das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) beschlossen. Es tritt Mitte 2026 in Kraft.
Der fraktionslose Abgeordnete Ortwin Lowack sagt in der Sitzung 1992 etwas, das auch heute wie eine Zusammenfassung der Lage wirkt: «Ist es nicht wirklich gespenstisch, dass die Probleme, über die wir heute debattieren, erst angegangen werden, wenn zwei Koalitionspartner Angst, fast schon Existenzangst haben? Es kann doch nicht wahr sein, dass man dann erst an die Probleme herangeht und sagt, es bestehe Gefahr von rechts, letztlich aber nur daran denkt, dass man Prozente bei einer Wahl verliert.»