Ursula Nold war einst Primarlehrerin und ist heute eine der wichtigsten Wirtschaftsführerinnen der Schweiz. Der Migros-Umbau wird nun zu ihrer Bewährungsprobe. Sie muss eine Ikone modernisieren, ohne sie zu beschädigen.
Im obersten Stock des Migros-Hochhauses am Zürcher Limmatplatz ist Ursula Nold derzeit fast täglich anzutreffen. Offiziell ist das Präsidium des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB) nur ein 50-Prozent-Job. Doch das ist derzeit graue Theorie.
Die Migros steckt im grössten Umbau ihrer jüngeren Geschichte. Traditionsreiche Tochterunternehmen wie Hotelplan werden verkauft. Bei den Fachmärkten könnten neben Melectronics und SportX noch zahlreiche weitere Ladenketten abgestossen werden. Rund 1500 Stellen fallen der Restrukturierung zum Opfer. Das halbe Land schaut mit einer Mischung aus Neugier und Verunsicherung zu: Wankt eine Schweizer Ikone?
Breit verteilte Macht
Nold pendelt von Bern nach Zürich. Im Migros-Hochhaus hat die MGB-Präsidentin ihr Büro praktisch neben jenem von Mario Irminger, dem operativen Chef der Migros-Gruppe. Die beiden stimmen sich eng ab: Verkaufsgespräche sind zu führen, Anfragen von beunruhigten Mitarbeitern zu beantworten, die nächsten Schritte zu planen.
Die Arbeitstage sind lang. Nold füllt eines der derzeit wichtigsten Ämter der Schweizer Wirtschaft aus. Und doch ist die MGB-Präsidentin in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt.
Das mag daran liegen, dass es bei der Migros nicht wirklich einen Chef gibt. Die Macht ist breit verteilt und vielfach gebrochen: Neben der MGB-Zentrale existieren zehn Regionalgenossenschaften mit einflussreichen Regionalfürsten, zudem wachen demokratisch gewählte Genossenschaftsräte und eine Delegiertenversammlung über das Migros-Konstrukt. Dem MGB-Präsidenten kommt traditionell eine ausgleichende Funktion nach innen zu.
Nolds geringe Bekanntheit mag aber auch daher rühren, dass sie wenig in den Medien präsent ist. Wer ist sie, und welche Rolle spielt die 54-Jährige bei der Erneuerung des orangen Riesen?
Ein Migros-Kind mit Ehrgeiz
Kaum jemand hätte darauf gewettet, dass Ursula Nold einmal «Madame Migros» werden würde. Nach einer pädagogischen Ausbildung arbeitet sie als Primarlehrerin und Schulleiterin an der Berner Volksschule. Später leitet sie die Marketingabteilung eines Weiterbildungsinstituts und unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule Bern.
Nold zeigt stets Hartnäckigkeit, Ehrgeiz und hohe Einsatzbereitschaft, wie ihr Weggefährten attestieren. Die ambitionierte Tennisspielerin liebt Herausforderungen und den Wettbewerb. Sie arbeitet weiter, als sie und ihr Mann – heute Staatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft – vier Kinder bekommen. Nebenbei absolviert sie Management-Weiterbildungen, etwa einen Executive-MBA an der Universität St. Gallen, den sie mit einer preisgekrönten Arbeit zur Governance in Genossenschaften abschliesst.
Das Migros-Gen bekommt Nold in die Wiege gelegt. Ihre Mutter arbeitet als Sprachlehrerin in der Klubschule Migros. Am Familientisch wird häufig über das Unternehmen gesprochen. Im Jahr 1996 wird Nold Genossenschaftsrätin in der Migros-Regionalgenossenschaft Aare. Von 2008 bis 2019 präsidiert sie die MGB-Delegiertenversammlung, also das «Parlament» und oberste Organ der Migros.
In dieser Zeit lernt sie, dass es in der demokratisch organisierten Migros ein Gespür für politische Mechanismen und Allianzen braucht. Nold nutzt dies als Sprungbrett: Völlig überraschend wird sie im Frühling 2019 ins Präsidium der Verwaltung des MGB – also des Verwaltungsrats der Migros-Gruppe – gewählt. Sie setzt sich als wilde Kandidatin gegen die Favoritin des damaligen Migros-Establishments durch.
Streit um Einheitsgenossenschaft
Von da an hätte Nolds Rolle sein können wie jene der meisten Migros-Präsidenten vor ihr: jene einer grauen Eminenz im Hintergrund. Doch von Beginn an reiht sich Krise an Krise. Im Sommer 2019 bricht ein Skandal rund um den Freiburger Migros-Regionalfürsten Damien Piller wegen ungetreuer Geschäftsführung und Wahlfälschung aus. Nold greift durch und verankert in Rekordzeit neue Governance-Richtlinien bei der Migros.
Nold, die zunächst als Migros-Traditionalistin gilt, weiss aber, dass es noch mehr Reformen braucht. Die Migros verliert Marktanteile und fällt im Wettbewerb zurück. Wie Insider berichten, lanciert die Präsidentin Vorschläge für eine neue Strategie und Struktur der Migros, bei denen sie nicht vor Tabubrüchen zurückschreckt. Nold will prüfen lassen, ob die zehn Regionalgenossenschaften und der MGB zu einer Einheitsgenossenschaft zusammengelegt werden sollen, wie beim Konkurrenten Coop.
Das ist den mächtigen Migros-Regionalfürsten zu viel. Während die Schweizerinnen und Schweizer im Jahr 2022 über die Alkohol-Abstimmung bei der Migros debattieren, tobt hinter den Kulissen ein Machtkampf. Erst ein Kompromissvorschlag bringt eine Entspannung: Die MGB-Zentrale und die Regionalgenossenschaften einigen sich auf die Gründung der Supermarkt AG. Beide Seiten sind gemeinsam dafür verantwortlich, dass sie das Kerngeschäft – die Migros-Supermärkte – in den kommenden Jahren wieder fit machen.
Aufsehenerregende Umbaupläne
Die Präsidentin Nold muss in der Zwischenzeit auch einen neuen operativen Migros-Chef suchen. Sie findet ihn Anfang 2023 im vormaligen Denner-Chef Mario Irminger. Er kommt weder aus der MGB-Zentrale noch aus den Regionen und gilt als durchsetzungsstarker Detailhandelsprofi.
Im Februar 2024 folgt der nächste Paukenschlag: Die Migros kündigt einen Grossumbau mit dem Verkauf von Hotelplan und weiteren Tochterunternehmen sowie einem Stellenabbau an. Die Schweizer Öffentlichkeit fragt sich, ob die Migros unter der Präsidentin Nold nun ihr Erbe zerlegt. Immerhin ist Hotelplan im Jahr 1935 von Gottlieb Duttweiler persönlich gegründet worden.
Der Entscheid zum Hotelplan-Verkauf dürfte Nold und der Migros-Verwaltung nicht leicht gefallen sein. Aber am Ende orientiert diese sich an den nüchternen Fakten. Dem Vernehmen nach hat Hotelplan in den vergangenen fünfzehn Jahren insgesamt rund 200 Millionen Franken Verlust gemacht. Schon Duttweiler sei disruptiv gewesen und habe sich immer wieder von Firmen getrennt, hiess es bei der Pressekonferenz zur Ankündigung des Migros-Umbaus.
Zwischen Reform und Bewahrung
Bei solchen öffentlichen Auftritten drängt sich Nold nicht in den Vordergrund. Sie überlässt die Bühne Mario Irminger. Zudem gibt sie nur selten Interviews. Das führt da und dort zu der Vermutung, Nold sei bei der Migros gar nicht im Fahrersitz. Diesem Eindruck widerspricht sie aber: «Ich habe die Veränderungsprozesse in der Migros in den vergangenen Jahren angestossen und an vorderster Front vorangetrieben», erklärt sie.
Nold sieht sich auch nicht als Hüterin der Migros-Traditionen, die darauf achtet, dass das Management jetzt nicht zu weit geht. «Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesem Umbau und dem Migros-Erbe. Im Gegenteil: Der Umbau ist nötig, damit die Migros ihr soziales und gesellschaftliches Engagement auch in Zukunft aufrechterhalten kann. Wir wollen die Migros fit machen für die nächsten hundert Jahre.»
Gibt es dennoch rote Linien für die MGB-Präsidentin? Die Migros wäre für sie erst dann nicht mehr die Migros, wenn zwei Kernelemente nicht mehr vorhanden wären: einerseits die genossenschaftliche Identität, anderseits der Dienst an der Gesellschaft. «Ich kann mir eine Migros nicht vorstellen ohne ihre Verantwortung als soziale Arbeitgeberin und ohne Kulturprozent, das für den Zusammenhalt in diesem Land sehr wichtig ist.» Zudem ist für Nold zentral, dass die Migros-Werte respektiert werden. «Doch diese müssen sich an der Gegenwart orientieren, also an den Bedürfnissen und Sorgen der Menschen von heute, und nicht an Traditionen um der Tradition Willen.»
Präsidentin muss für Zusammenhalt sorgen
Wenn Ursula Nold solche Sätze sagt, klingt sie eher nach einer Politikerin als nach einer Managerin. Ihre persönliche Haltung ist bisweilen schwer fassbar. Doch für ihr Amt braucht es wohl genau das. Eine Migros-Präsidentin muss zwar die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten des Detailhandelsgeschäfts verstehen und die Firma wo nötig vorantreiben. Vor allem aber muss sie für einen Ausgleich im hochpolitischen Migros-Gebilde sorgen.
Darin scheinen Nolds Stärken zu liegen. Viele Beobachter loben sie für ihren partizipativen Führungsstil. Sie habe ein grosses Gespür für Menschen und Situationen. Sie verstehe es, alle Seiten abzuholen und einen Konsens zu formen. Sie sei der festen Überzeugung, dass man nur gemeinsam vorankomme.
Ursula Nold muss die weitverzweigte Migros-Gemeinschaft zusammenhalten. Wenn ihr das im gegenwärtigen Grossumbau gelingt, ist das keine Kleinigkeit.