Quasi über Nacht brach 1992 über die bosnische Hauptstadt Sarajevo der Krieg herein. Fast vier Jahre lang sollte sie belagert werden. Eines der massgeblichen Zeugnisse über diese Zeit des Horrors ist Nenad Veličkovićs sarkastisch-distanzierter Roman «Nachtgäste».
Stadtneurotiker gibt es nicht nur in New York, und ob Krieg oder Frieden herrscht, ist für ihr Befinden nicht das Wichtigste. Nenad Veličković erzählt von Stadtneurotikern im Sarajevo des Jahres 1992. Die Belagerung der bosnischen Hauptstadt durch serbische Militärs um Radovan Karadžić hat gerade begonnen. Beinahe täglich prasseln Granaten von den umgebenden Hügeln auf die Häuser, schiessen Heckenschützen auf alles, was sich bewegt.
Veličkovićs Romanpersonal in «Nachtgäste» verbirgt sich im Keller eines geräumigen Museums der bosnischen Landesgeschichte, nachdem die Wohnung des Museumsdirektors in Brand geraten ist. Maja, seine pubertierende Tochter, befolgt den knappen Rat ihres Literaturlehrers: «Schreib!» Sie tut wie geheissen und ist sich noch unsicher, ob ein «Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans» entstehen wird. Eine Mischung zwischen Fiktion und Dokument aber ist schon einmal sicher.
Krieg gegen wen?
Maja kann sich nicht erklären, wer warum gegen wen in ihrer Stadt kämpft. Orthodoxe, katholische und muslimische Gläubige führen, überlegt sie, den Krieg wegen unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse. Also kämpfen Gläubige gegen wen? Gegen Ungläubige?
Verwirrt beschliesst die junge Frau, sich an das zu halten, was sie sieht. Glücklicherweise erblickt sie im Keller allerlei recht bekannte, aber doch «interessante Persönlichkeiten»: nämlich Grossmutter, Vater, Mutter, den Bruder und dessen schwangere Freundin. Hinzu kommen ein Dalmatiner sowie zwei ältere Herren, von denen der eine Nachtwächter des Museums war und der andere sein treuer Freund seit Partisanenzeiten ist. Drei aufeinanderhockende Generationen in Zeiten von Not und Todesangst, damit lässt sich erzählerisch einiges anfangen.
Den Alltag mit seinen sowohl alltäglichen wie gar nicht alltäglichen, den familiären und den kriegerischen Ereignissen schildert Maja trocken und sarkastisch in knappen, pointierten Sequenzen. Ihre Grossmutter lässt einen alten Koffer nicht aus den Augen und ist ungeachtet typischer Alterseinschränkungen fähig, jedes Lebensmittel im näheren und auch weiteren Umkreis zu orten – und nicht nur das. Die Mutter meditiert in aller Ruhe, während Granaten den Putz rieseln lassen, und entnimmt lebenspraktischen Rat bevorzugt dem konfuzianischen Klassiker «Buch der Wandlungen». Auch, als ihr geliebter Sohn kurzzeitig im Krieg verschwunden zu sein scheint.
Das I Ging verkündet «Flammende Schönheit. Beharrlichkeit bringt Lohn. Erfolg, Rinderaufzucht – Glück» und liegt nicht falsch: Dávor taucht wieder auf und lässt sich wie zuvor willig von seiner hochschwangeren Freundin Sanja herumkommandieren. Ausserdem konkurriert der Dalmatiner zuweilen erfolgreich mit der gefrässigen Grossmutter, und die beiden älteren Herren sind sich einig darin, uneinig zu sein: Während Brkić auf kleine und grosse Katastrophen mit stoischer Weisheit reagiert, bewährt sich Julio auf dem Schwarzmarkt.
So gehen die Nächte und Tage oft schnurrig dahin. Eine kinderreiche Nachbarin mit dem Spitznamen Mrs. Flintstone, wohl nach der amerikanischen Trickfilmserie «Familie Feuerstein» benannt, tritt wiederholt auf. Ruppig, kontroll- und klatschsüchtig, drängt sie als personifizierte ländlich-muslimische Zugluft in die urban-akademische und multireligiöse Grossfamilie.
Dann beruft der Ehemann von Mrs. Flintstone, seines Zeichens Kommandeur der «Bewaffneten Kräfte» Sarajevos, Dávor ein. Doch der will als Serbe nicht auf die Belagerer schiessen, was Mrs. Flintstone Junuz und anderen freilich nicht auf die Nase binden möchte. Fliehen könnte er mit seiner Mutter, der als Jüdin von der jüdischen Gemeinde in Belgrad eine der raren Ausreisemöglichkeiten angeboten wird. Dávor aber will weder schiessen noch Sanja verlassen, die es wiederum als Schwangere ablehnt, ein Flugzeug zu besteigen . . .
Erstaunliche Leistung
Unter dem Titel «Logiergäste» ist der Roman erstmals 1997 in der Übersetzung der unvergessenen Barbara Antkowiak erschienen. Geringfügig überarbeitet, erscheint er nun als «Nachtgäste» neu, dreissig Jahre nach der Erstveröffentlichung: Veličković hatte das Buch bereits 1995 publiziert, noch vor dem Ende der Belagerung Anfang 1996.
Das ist angesichts der ständigen Lebensgefahr eine erstaunliche Leistung – und erklärt, warum der Roman anfangs bevorzugt sarkastisch-distanziert ist und im letzten Drittel Fahrt aufnimmt; warum der Krieg lange ferngehalten wird, nicht zuletzt durch die jugendliche Erzählperspektive, bevor er mit Macht herandrängt und ein Opfer verlangt (den Hund). Und warum das mit einem Mal spannende Buch die einen dann doch noch entkommen, die anderen gebären lässt. Und warum am Ende das Rätsel gelöst wird, was sich in Grossmutters Koffer befindet.
Vor «Nachtgäste» und dem Folgeband «Der Vater meiner Tochter» aus dem Jahr 2016 sollte man allerdings Dževad Karahasans unübertroffenes «Tagebuch der Aussiedlung» aus Sarajevo lesen. Und auch noch Damir Ovčinas düsteren Liebesalbtraum «Zwei Jahre Nacht». Nacht ist nämlich nicht gleich Nacht.
Nenad Veličković: Nachtgäste. Roman. Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak. Jung und Jung, Salzburg 2025. 234 S., Fr. 36.90.