Sie ist die mächtigste Politikerin der Schweiz. Im grossen Interview spricht Keller-Sutter über die Ohnmacht der Gegenwart, ihren Aufstieg und die Vergleiche mit Margaret Thatcher.
Frau Keller-Sutter, vergangene Woche beschlossen die USA, die Schweiz mit hohen Zöllen zu bestrafen. Fühlen Sie sich in so einem Moment ohnmächtig?
Nein. Dass Präsident Trump Zölle erheben würde, war absehbar – unverständlich fanden wir im Bundesrat, dass man gegenüber einem wichtigen Handelspartner wie der Schweiz eine derart schablonenhafte Berechnung anstellt.
Was dachten Sie, als Donald Trump seine Tafel mit den Zöllen hochhielt?
Es ist manchmal besser, nicht alle Gedanken mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Übers Wochenende hiess es, der Bundesrat hätte besser vorbereitet sein müssen. Aus den Wirtschaftsverbänden kam die Forderung, Sie müssten jetzt nach Mar-a-Lago pilgern. Werden Sie das tun?
Der Bundesrat war vorbereitet. Allerdings hatte niemand diese hohen Zollsätze erwartet. Wir werden unsere Argumente in geeigneter Form vorbringen. Und am geeigneten Ort.
Sonst gelten Sie als mächtigste Politikerin des Landes. In diesem Jahr sind Sie auch noch Bundespräsidentin. Was machen Sie mit so viel Macht?
Ich muss Sie enttäuschen. In der Schweiz hat niemand richtig Macht. Unser System ist voller Sicherungen. Der Bundesrat wurde von den Verfassungsvätern nicht als starkes Gremium angelegt. Das Parlament besteht aus zwei Kammern, die sich gegenseitig in Schach halten. Und am Schluss hat oft das Volk das letzte Wort. «Wer regiert die Schweiz?», fragte der Publizist Hans Tschäni einmal in einem Buch. Der Bundesrat ist es nicht, jedenfalls nicht allein.
Sie reden Ihren Einfluss klein.
Man hat natürlich einen Gestaltungsspielraum. Und ich habe immer gesagt: Ich bin nicht Passivmitglied im Bundesrat. Ich will entscheiden, machen, prägen. Wer das nicht will, ist nicht am richtigen Ort.
Wo prägen Sie?
In der Vorbereitung der Dossiers, die in den Bundesrat kommen. Aber schon im Bundesrat reden alle sieben Regierungsmitglieder mit. Allein wäre es wohl einfacher. Aber es wäre auch etwas langweilig. Und meistens entsteht aus der Debatte die bessere Lösung, auch wenn man dafür nachgeben muss.
Ihr Gestaltungswille ist so stark, dass Sie offenbar den anderen Bundesräten ständig reinreden.
Man wirft dem Bundesrat oft vor, es herrsche ein Silo-Denken. Aber wenn jemand mitgestaltet, ist es auch wieder nicht recht. Die stärkste Waffe eines Bundesrats ist übrigens nicht das Reinreden, sondern die Obstruktion. Wenn Aufträge nicht ausgeführt und dringliche Geschäfte verzögert werden. Das kommt zum Glück nicht oft vor.
Ärgert es Sie, dass Ihnen so viel Macht zugeschrieben wird?
Das sind Etikettierungen, damit muss ich leben. Schon bei meiner Wahl hörte ich, Parlamentarier hätten Angst vor mir. Aber es ist mir lieber so, als wenn es heisst: Die nützt ja gar nichts.
Schon Machiavelli riet: «Es ist besser, gefürchtet, als geliebt zu werden.»
Nicht gefürchtet, aber respektiert. Wer geliebt werden will, sollte nicht in die Politik. Am Schluss zählt das Resultat. Ich will mich einbringen, dafür bin ich gewählt worden.
Sie haben die Pandemie und den Fall der Credit Suisse erlebt. Waren Sie auf solche Krisen vorbereitet?
Das waren Extremsituationen, auf die sich niemand vorbereiten kann. Wir mussten Notrecht anwenden, um massiven Schaden von der Schweiz abzuwenden. Ich habe das mitgetragen. Aber es hat mich sehr beschäftigt. In den Medien hiess es dann, der Bundesrat geniesse die Machtfülle.
Er sei im Machtrausch.
Während Corona hatten wir Notrecht ohne Ende. Als Liberaler fiel mir das schwer, aber es war nötig. Und bei der Abwicklung der Credit Suisse ging es um eine Garantie des Bundes in der Höhe von 100 Milliarden Franken gegenüber der Nationalbank sowie weitere 9 Milliarden Franken als Garantie des Bundes gegenüber der UBS, eigentlich ein ordnungspolitischer Sündenfall. Und wer musste das alles unterschreiben? Ich! Ich musste das in meiner Funktion und im Interesse der Schweiz tun. Mit Machtrausch hat das nichts zu tun.
Im Fall CS beschönigte Ihr Vorgänger Ueli Maurer die Lage. Sie mussten sehr schnell handeln, innert weniger Tage.
Es waren dreieinhalb Tage. Eigentlich sogar nur zwei Tage, um die Bank zumindest ins Wochenende zu retten. Die Entscheidungsstärke spielt eine zentrale Rolle. Am schlimmsten sind nicht Personen, die einmal falsch entscheiden, sondern jene, die nicht entscheiden – die die Probleme vor sich herschieben, in der Hoffnung, sie würden sich von selbst erledigen.
Woher nehmen Sie die Orientierung, wenn Sie einen Entscheid fällen müssen, der gegen Ihre Überzeugungen ist?
Es ist eine innere Kraft. Ich kann mich sehr gut fokussieren auf ein Problem. Das Landesinteresse muss im Vordergrund stehen, da muss man einen kühlen Kopf bewahren. Es darf Sie dann auch nicht interessieren, was Ihre Kritiker sagen, was die Medien über Sie schreiben könnten. Das CS-Debakel hätte auch anders enden können, dann wäre ich politisch beschädigt gewesen. Obwohl ich gezwungen war, zu retten, was noch zu retten war.
In letzter Zeit haben Sie das Lobbying der Banken kritisiert – im Fall der UBS, der letzten verbliebenen Grossbank des Landes, sei es «unüberhör- und unübersehbar».
Ich bin schon einige Jahre in Bern. In dieser Zeit hat das Lobbying extrem zugenommen, nicht nur das der Banken. Es ist unübersehbar. In einem Milizsystem gehört Lobbying dazu, die Branchen sollen sich einbringen. Aber heute werden im Parlament manchmal recht schamlos Argumentarien von Verbänden heruntergebetet.
Die UBS vermisst einen direkten Draht zur Finanzministerin.
Ich kann Sie beruhigen. Es gab Treffen, nicht wenige, und zwar mit der obersten Führung, das ist auch dokumentiert. Dabei sprachen wir nicht über irischen Whiskey. Der Bundesrat wird in voller Kenntnis der Position der UBS über die künftige Regulierung befinden.
Als Kind wurden Sie manchmal Zirkusdirektorin genannt. Passt das zu Ihrer Rolle als Bundespräsidentin?
Das hat etwas. Als Bundespräsidentin muss ich dafür sorgen, dass die verschiedenen Charaktere in der Regierung harmonieren, dass die richtigen Geschäfte in nützlicher Frist behandelt werden, dass es Kompromisse und keine Indiskretionen gibt. Da muss man auch einmal vorher das persönliche Gespräch suchen, um Situationen zu entschärfen.
Sie disziplinieren?
Nein. Im Bundesrat hat man nur Einfluss, wenn man Lösungen bringt und diese sachlich begründen kann. Es ist ein Mythos, dass der SVP-FDP-Viererblock alles dominiere – und ich dafür nur ein bisschen mit der Peitsche knallen müsse. Wer das behauptet, hat wenig Ahnung von Exekutivpolitik. Die grösste Rolle im Bundesrat spielt die Persönlichkeit: Wie dossierfest, wie kompromissbereit, wie kollegial ist jemand.
Als machtbewusste Politikerin wird es Sie nicht stören, dass in den Bundesrat nur selten starke Figuren gewählt werden – dafür vor allem «Durchschnittsholz», wie es der Historiker Urs Altermatt einmal formuliert hat.
Im Gegenteil. Ich habe gerne starke Figuren, auch wenn sie politisch anders ticken: Mit den Sozialdemokraten Berset, Levrat und Rechsteiner habe ich sehr gut zusammengearbeitet. Ich habe auch immer eigenständige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt, die nicht einfach abnicken, was ich sage. Nur schwache Chefs umgeben sich mit schwachen Leuten.
Wo haben Sie das Politisieren gelernt?
Ich weiss nicht, ob man das lernen kann. Es ist wie Führen, das hat viel mit dem Naturell und den frühen Prägungen zu tun. Meine Eltern hatten ein Restaurant, wo Zeitungen auflagen, am Familientisch wurde politisiert. Mein Vater hatte noch Aktivdienst geleistet, erzählte viel vom Krieg, von Geschichte.
Ihr Bruder Rolf schrieb einmal: «Klein Karin musste schon früh lernen, sich durchzusetzen.»
Ich bin eine Nachzüglerin. Der jüngste meiner drei Brüder ist neun Jahre älter als ich. Als ich auf die Welt kam, sagte mein Vater zu den Brüdern: «Ihr habt ein Schwesterlein bekommen.» Und sie sagten: «So ein Brüeliwiib wollen wir nicht!» Ich musste mir meinen Platz suchen.
Die Familie war Ihre Prägung. Sie sagten einmal: «Mit 25 Jahren verändert sich die Persönlichkeit nicht mehr fundamental.»
Es gibt nicht nur eine Prägung. Aber das Elternhaus ist zentral, das erkennt man erst im Nachhinein. Meine Eltern waren bescheidene Leute, die hart arbeiten mussten. Mit drei älteren Brüdern musste ich mich ein- und unterordnen. Geprägt haben mich aber auch die Kantonsschule in Neuenburg oder die Studienjahre in London und Montreal, weg von zu Hause, auf mich allein gestellt. Und ich bin seit 35 Jahren verheiratet, ohne meinen Mann wäre ich eine andere Person.
Sie sind immer wieder ausgebrochen: Aus dem Studium in London kehrten Sie als Punk zurück.
Ja, das ist so. Ich rebellierte auch gegen meine Eltern – gerade noch so kontrolliert, dass es nicht kippte. Aber so konservativ meine Eltern auch waren, sie hatten immer die Gnade, zu denken: «Mal schauen, es kommt dann schon gut.» Ich wollte ja kein Outlaw werden. Ich hatte schon den Anspruch, einmal ein bürgerliches Leben zu führen.
Sie gingen als Kind zu den Wiler Fasnachtsteufeln, wo Mädchen eigentlich nicht vorgesehen waren.
Ich habe nie akzeptiert, dass ein Mädchen anders behandelt werden soll als ein Bub. Wieso auch? Ich habe zu Hause nichts anderes gelernt. Da musste ich wie meine Brüder mit Argumenten überzeugen, jammern interessierte unseren Vater nicht. Auch die Nachbarn, die eine Velowerkstatt führten, hatten drei Buben. Ich war Tag und Nacht mit ihnen zusammen, bei ihnen in den Ferien, ich gehörte immer dazu.
Haben Sie es nie anders erlebt?
Erst als ich in die FDP eingetreten bin. Ich war jung, wurde mit 28 Jahren schon Gemeinderätin und mit 36 Regierungsrätin. Im Wahlkampf sagten manche: «Wir brauchen doch einen Mann und Offizier.» Bis heute wird man als Frau in der Politik strenger beurteilt.
An der Abdankung von Elisabeth Kopp sagten Sie: «Die einzigen freisinnigen Frauen zu sein, die je in den Bundesrat gewählt wurden – das hat uns verbunden.» Haben Sie sich oft allein gefühlt als Frau im Freisinn, in der Politik?
Der Freisinn war immer eine Partei, die schon für die Männer sehr kompetitiv war. Plötzlich kamen auch noch Frauen, die Ansprüche stellten. Und der Kuchen wurde kleiner. Dass ich die erste freisinnige Bundespräsidentin bin, obwohl die Partei 1848 diesen Staat gegründet hat, sagt schon etwas aus.
Fühlten Sie sich Elisabeth Kopp dadurch verbunden?
Als sie zurücktreten musste, sagte mein Vater: «Ja, das ist richtig.» Ich war mir nicht sicher. Sie kennen vielleicht die Bilder, wie Elisabeth Kopp danach vor dem Bundeshaus West in ein Auto steigt und davongefahren wird?
Eine eiskalte Szene: Sie wird nach dem erzwungenen Rücktritt weggebracht aus dem Bundeshaus und aus dem politischen Establishment.
Ich glaubte früher, sie habe das Bundeshaus durch den Hinterausgang verlassen müssen. Als ich Justizministerin war, gab es regelmässig Anlässe mit früheren Justizministern und Kaderangestellten. Da kam Elisabeth und hatte grosse Freude, dass nach dreissig Jahren wieder eine freisinnige Frau gewählt worden ist. Sie hat Fehler gemacht, wie wir alle auch. Aber es war brutal für sie. Einen Mann hätte man nicht so behandelt.
Man kann Ihre Biografie als Emanzipationsgeschichte lesen. Weshalb haben Sie dennoch Mühe, sich als Feministin zu bezeichnen?
Einerseits hadere ich vielleicht damit, weil der Begriff links besetzt ist. Andererseits habe ich das Frausein nie in den Vordergrund gestellt, sondern das Amt. Als ich erstmals für den Bundesrat zur Wahl stand, gab es eine kurzzeitige Frauenmehrheit im Bundesrat. Da sagte ein SVPler zu mir, er wisse nicht, warum er eine fünfte Frau wählen solle. Ich sagte: «Herr Nationalrat, Sie wählen keine Frau, Sie wählen einen Bundesrat.»
Inzwischen werden Sie selbst von Tamara Funiciello als «Vorbild» bezeichnet. Hatten Sie als Politikerin selbst Vorbilder?
Als junge Frau fand ich Frauen in verschiedenen Parteien gut. Eine Lilian Uchtenhagen in der SP, eine Vreni Spoerry in der FDP fand ich auf ihre Art stark, Margaret Thatcher traue ich mich fast nicht zu nennen.
Sie werden regelmässig mit Thatcher verglichen. Es heisst dann: Karin Keller-Sutter, die eiserne Lady.
Sie musste untendurch, auch wenn sie das in ihrer Biografie nicht so artikuliert. Sie trainierte ihre Stimme, um tiefer reden zu können. Sie war britische Premierministerin und bügelte gleichzeitig im ersten Stock an der Downing Street die Hemden ihres Mannes Denis. Ich war in London und erinnere mich gut. Als von ihr ein politischer U-Turn gefordert wurde, sagte sie an einem Parteitag der Konservativen: «You turn if you want to. The lady’s not for turning!» Am Ende hat sie leider übertrieben und sich völlig isoliert. Ich würde sie nicht als Vorbild bezeichnen, aber sie war eine starke Frau.
Manchmal heisst es, je weiter man beruflich aufsteige, desto einsamer werde man. Suchen Sie Trost in den Biografien von anderen Politikerinnen, die wie Sie alleine übers Wochenende schwierige Entscheide treffen mussten?
Nicht unbedingt. Natürlich, ich bin es, die entscheidet. Im Team heisst es manchmal so schön: «Am Schluss musst du hinstehen.» Aber ich bin nicht allein, ich tausche mich im Departement aus, im Freundeskreis. Es gibt Führungspersonen, die unter der Führung und der Verantwortung leiden. Ich leide nicht.
Auf Ihrem Nachttisch liegt die Benediktsregel, die Benedikt von Nursia im frühen Mittelalter geschrieben hat. Was suchen Sie in diesem Buch?
Es ist kein eingängiger Text, eine Klosterregel für das Zusammenleben der Benediktiner. Aber ich finde sehr universelle Gedanken darin, über die Menschen, die Menschenführung, über mich selbst. Etwa einen Satz, den ich mir immer wieder in Erinnerung rufe: «Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben.» Der Satz hilft mir in schwierigen Situationen. Denn was bedeutet er? Man sollte sich nicht zu wichtig nehmen. Alles ist einem nur auf Zeit gegeben. Es ist wichtig, etwas daraus zu machen.
Wie wichtig ist Ihnen die Religion?
Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen. Meine Eltern haben mir wichtige Werte mitgegeben, aber sie waren keine Frömmler. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, die sich nicht eignet für Leute ohne Kompass. Sie sind schnell verunsichert.
Was ist für Sie unverhandelbar?
Grundlegende Tugenden: Anstand, Bescheidenheit, Respekt – dass man Schwächere unterstützt, sich in der Familie hilft, auch einmal grosszügig und nicht kleinlich ist.
Sind das Werte, die Sie schon im Restaurant Ihrer Eltern gelernt haben?
Ja. Meine Eltern haben mir beigebracht, keine Vorurteile zu haben, zuzuhören und sich erst dann eine Meinung zu bilden. Manche sind einem sympathisch, andere nicht. Aber es sind alles Kunden, man behandelt alle gleich. Das kann ich, ohne dass ich mich verstellen muss. Ich gehe auch auf Leute zu, mit denen ich nicht einen Abend verbringen möchte.
Welche Rolle spielt der Liberalismus in Ihrem Kompass?
Als Jugendliche war ich eher links.
Sie haben sich einmal als «Protestlinke» bezeichnet.
Genau, auch um meinen Vater herauszufordern. Später ging ich aus einer katholischen Familie heraus nicht in die CVP, sondern in die FDP. Das war schon eine Abgrenzung. Mich begann in der Kanti die Geschichte, die Literatur zu interessieren. Dann fand ich über die Philosophie einen Zugang zur Aufklärung. Über Kant, der ja leider kein Frauenfreund war.
Auch er hatte nicht nur Gutes.
Da muss man grosszügig sein. Aber sein Konzept der Vernunft – dass man davon ausgeht, der Mensch kann selber denken und urteilen – hat mich fasziniert. Dass man frei entscheidet, aber auch die Verantwortung dafür trägt. Deshalb bin ich manchmal etwas deutlich mit gewissen Leuten aus der Wirtschaft, die sich im entscheidenden Moment verziehen. Das Prinzip des ehrbaren Kaufmanns gilt natürlich auch im schlechten Fall.
Wenn Sie das erzählen, müssen Sie sich aufgeregt haben, als Altbundesrat Pascal Couchepin kürzlich über Sie sagte: «Karin Keller-Sutter ist eine hervorragende Bundesrätin, sie hat aber wenig Interesse an der liberalen Philosophie.»
Ich dachte: Er kennt mich nicht. Aber man hat den Frauen schon immer gerne erklärt, wie die Welt funktioniert.
Couchepin sagte das, nachdem Sie den amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance für eine Rede gelobt hatten, in der er die Meinungsfreiheit als grösstes Problem von Europa bezeichnete.
J. D. Vance sagte, die Meinungsfreiheit, die Teilhabe der Bevölkerung sei wichtig – und ich sagte, dass er damit recht hat. Im Zeitungsinterview ging es vor allem um die Ukraine und die Schweiz. Das schien mir persönlich wichtiger. Es wurde aber kaum berücksichtigt.
Sie würden es noch einmal sagen?
Manchmal wird man nicht so verstanden, wie man verstanden werden will. Diese Erfahrung haben wohl die meisten schon gemacht. Man kann das nicht verhindern.
An Ihrem Beispiel wurde eine alte Kritik erneuert: Der Bundesrat biedert sich überall an, um profitieren zu können. Erkennen Sie die Schweiz darin wieder?
Nein. Das sind vor allem Stimmen, die eine gesinnungsethische Aussenpolitik fordern. Aber wir sollten uns nicht als Land darstellen, das moralisch überlegen ist. Eine Aussenpolitik, die wirtschaftliche Schäden für die Schweiz in Kauf nimmt, würde sich auf den sozialen Frieden in unserem Land auswirken. Der Bundesrat muss die Interessen der Schweiz vertreten.
Wie schätzen Sie die geopolitische Lage ein?
Wir haben diese Frage kürzlich im Bundesrat beraten: Für uns hat sich nichts Fundamentales geändert. Gerade haben wir mit der Europäischen Union das Vertragswerk abgeschlossen. Wir wollen die Beziehungen mit der EU stabilisieren, vertiefen. Gleichzeitig sind die USA unser wichtigstes Exportland, auch da haben wir immer stabile Beziehungen angestrebt – vor, mit und nach der Regierung von Donald Trump. Das ist derzeit schwierig, aber das war es auch in früheren Phasen schon, und es bleibt das Ziel. Auch China ist ein wichtiger Handelspartner. Diese Interessen müssen wir wahrnehmen. Das steht so in unserer Bundesverfassung: «Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.» Das ist die Handlungsmaxime.
In Ihrer Eröffnungsrede am WEF in Davos zitierten Sie zur allgemeinen Weltlage den «Economist» . . .
. . . ja, «the predictable unpredictability».
Sind wir auf die Unvorhersehbarkeiten unserer Zeit vorbereitet?
Ich glaube, als Gesellschaft sind wir nicht darauf vorbereitet. Mein früherer Regierungskollege in St. Gallen Hans-Ulrich Stöckling hat jeweils gesagt: «Nur ein Baby mit vollen Windeln schreit nach Veränderung.» Das ist wirklich wahr. Nach dem Fall der Mauer haben wir lange in einer recht stabilen Weltordnung gelebt. Jetzt ist alles ins Wanken geraten: mit Corona, mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, mit dem Handelsstreit. Plötzlich ist die Rede von der Polykrise, die Geschwindigkeit der Ereignisse ist sehr anspruchsvoll. Dass Unsicherheit überfordern kann, finde ich verständlich.
Und der Bundesrat ist besser vorbereitet?
Ja. Der Bundesrat muss nüchtern bleiben, die Interessen des Landes identifizieren und sie so gut wie möglich verteidigen. Auf alles zu reagieren, ist keine Führung. Es ist nicht die Lautstärke, die die Qualität der Aussenpolitik bestimmt. Was die neue US-Administration macht, war bis zu einem gewissen Grad absehbar. Aber es ist für den Bundesrat anspruchsvoll. Wir wissen nie: Soll diese weitere Ankündigung jetzt nur Verunsicherung und Verhandlungen auslösen? Was wird tatsächlich umgesetzt?
Was soll die Schweiz tun?
Sich auf die eigenen Stärken besinnen. Und nicht einfach das tun, was gerade Mainstream ist. Ich zitiere gerne Georg Thürer, den Ostschweizer Historiker: «Zeitgenossen sein, Eidgenossen bleiben.» Es gibt Entwicklungen, mit denen wir uns arrangieren müssen. Gleichzeitig sollten wir unsere eigenen Werte behalten. Wir müssen herausfinden, was im politischen Umfeld grossen Lärm verursacht und was gekommen ist, um zu bleiben. Das ist die Kunst des Regierens.
Die Schweiz wartet oft ab, wohin sich die Welt bewegt.
Ja, und das ist nicht so schlecht.
Sie haben einmal über das Amt als Bundesrätin gesagt: «Die Verantwortung trägt man immer.» Gibt es Momente, in denen Sie abschalten und von niemandem erreicht werden können?
Didier Burkhalter hat bei seinem Rücktritt gesagt, das Amt sei eine zweite Haut. Es ist so, man kann diese zweite Haut nie abstreifen. Mein Mann sagt manchmal: «Musst du diese E-Mail jetzt schon wieder beantworten?» Aber bei mir ist man es gewohnt, sofort eine Antwort zu bekommen. Solange man im Amt ist, ist man immer im Amt. Abtauchen ist keine Option, zumindest nicht für mich.
Sie haben Karriere gemacht, um selbst bestimmen zu können, was Sie machen. Und jetzt sind Sie total fremdbestimmt.
Ja, das ist so.
Altbundesrat Arnold Koller hat es so formuliert: «Als Bundesrat gibt es nur einen Entscheid, den man selber fällt: den Entscheid über den eigenen Rücktritt.»
Das würde ich unterschreiben. Aussenstehende verstehen manchmal nicht, dass für eine Bundesrätin fast jede Einladung ein offizieller Termin ist. Manche sagen: «Das ist doch jetzt ein lockerer Abend, wir könnten doch noch . . .» Und ich sage: «Nein, ich mag jetzt nicht.» Ich möchte dann eher etwas lesen, etwas auf Netflix schauen.
Aber mit dem Handy daneben.
So bin ich einfach.
Weil wir anfangs über Macht sprachen: Noch mächtiger als Sie ist Ihre Agenda.
Ja, das sicher.