In ihrem autobiografischen Roman «Wild nach einem wilden Traum» erinnert sich Julia Schoch an eine Affäre, die sie zur Schriftstellerin gemacht hat. Was sind die Folgen, wenn man so persönlich schreibt?
Lange war das Älterwerden als Frau keine Erzählung wert. Zu langweilig, zu glanzlos. Oder man beklagte diese angeblich trostlosen Jahre, die auf die Frauen wie eine Ödnis warteten. Eine Frau, die die 45 überschritten hat, höre als sexuelles Wesen zu existieren auf. So lautete die häufige Botschaft.
Heute schreiben Frauen mittleren Alters Bücher, in denen sie zeigen, dass es das noch lange nicht gewesen ist. Dabei erleben die Autorinnen die neue Lebensphase als Befreiung und Ermächtigung. Für die Selbstbefragungen eignet sich das autofiktionale Erzählen besonders gut, das gerade so populär ist.
Bei der Autofiktion lässt sich zwischen erzählendem Ich und Autor nicht klar trennen. Das Geschriebene beruht auf Selbsterlebtem. Es geht immer entlang der eigenen Biografie. Diese wird mit dichterischer Freiheit gestaltet und gedeutet.
Auf diese Weise funktioniert «Auf allen vieren», der fulminante Roman der amerikanischen Schriftstellerin Miranda July. Eine Frau Mitte vierzig bricht aus dem Alltag mit Mann und Kind aus und beginnt eine entgrenzende Affäre mit einem viel jüngeren Mann. Ein letztes Aufbäumen, bevor ihr Begehren durch den Abfall der Hormone über eine steile Klippe stürzt: Dieses Drohbild treibt die Heldin an.
Erinnerungen an das junge Selbst
Auch Julia Schoch schreibt Romane über ihr Leben. Soeben ist der dritte Teil ihrer autofiktionalen Trilogie «Biografie einer Frau» erschienen. In «Wild nach einem wilden Traum» erinnert sich die Ich-Erzählerin an eine ebenfalls kurze und heftige Liebesaffäre. Sie ging damals fremd, während zu Hause ein Mann wartete, mit dem sie später zwei Kinder haben würde. Und mit dem sie, wie die Autorin, noch immer verheiratet ist.
Die Affäre liegt über zwanzig Jahre zurück. Sie lag vergraben. Es ist kein Zufall, dass die Autorin erst jetzt, mit fünfzig, der Erinnerung literarisch auf die Spur zu kommen versucht.
Julia Schoch, 1974 im ostdeutschen Mecklenburg geboren wie das erzählende Ich, fragt sich an diesem Punkt in ihrem Leben, ob man aus der Vergangenheit, als alles eine vibrierende Erwartung war, für die Gegenwart schöpfen kann. Man fühlte sich so offen und lebendig wie später nie mehr. Lässt sich die Kraft von damals noch einmal erfahren? Das fragt sich, wer die halbe Strecke zurückgelegt hat.
Der Einfluss der Männer
Es ist das Jahr 2002, und die Erzählerin verbringt dank einem Stipendium einige Wochen in einer Künstlerkolonie im Hudson Valley im Norden von New York. Hier begegnet sie einem spanischen Schriftsteller, den sie nur «den Katalanen» nennt.
Schon an einem der ersten Abende folgt die Erzählerin ihm auf sein Zimmer, es brauchte dafür nur ein Zeichen, einen stummen Befehl von ihm. So geht es nun fast jede Nacht, zwei gierige Körper, die sich vom andern nehmen, was sie brauchen.
Worauf die Anziehung beruht, bleibt unklar. Der Katalane gefällt ihr nicht, seine Selbstsicherheit stösst sie ab. Nach dem Sex setzen sich beide wieder an ihre Texte. Weil, so belehrt er sie, Schreiben «das Beste auf der Welt» sei, grösser als das Leben.
Mit der Erinnerung an die Affäre verwebt die Erzählerin eine Erinnerung an ihre Kindheit. Diese Geschichte schreibt sie auf während ihres Aufenthalts im Hudson Valley, «Der Soldat und das Mädchen» heisst sie. Als Kind traf sie im Wald nahe der Garnisonsstadt, in der ihre Familie lebte, regelmässig einen Soldaten. Auch dieser Mann, mit dem sie über das Leben und das Schreiben redete, blieb ihr Geheimnis.
Als das Mädchen dem Soldaten einmal erzählt, dass es später Schriftstellerin werden will, zweifelt er nicht daran und sagt: «Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.»
Die Erinnerung ist unzuverlässig
Schon diese frühe Begegnung begründet das Schreiben der Erzählerin. Nur muss sie zuerst etwas erleben, das sich aufzuschreiben lohnt. Jahre später ist es die Erinnerung an die Männer, die Liebe und das Begehren, die zu Text werden. «Wir bewohnen unsere Vergangenheit, wie man Träume bewohnt», heisst es einmal.
Julia Schoch sagt damit auch: Es ist nicht die Wirklichkeit, die sie beschreibt. Ebenso wenig ist die Erzählerin identisch mit dem Mädchen oder der Frau, die sich dem Katalanen hingibt. Seither gemachte Erfahrungen verwandeln die Erinnerung immer wieder aufs Neue.
Die Erinnerung ist also nicht verlässlich, im Gegensatz zum Vergessen: «Auf das Vergessen ist Verlass. Ohne Vergessen gäbe es keine Geschichten.» Es ist das, was übrigbleibt. Erst die Bruchstücke einer Erinnerung fügen sich zu einer Geschichte.
Die Melancholie als DDR-Mensch
Wer rückwärts schaut, erkennt, was für immer verloren ist. Daher rührt die Melancholie in Julia Schochs Schreiben. Sie hat das historisch erklärt: Die Melancholie habe mit dem Verschwinden eines Staates zu tun, wie sie es als Kind erlebt habe. Vor diesem ostdeutschen Hintergrund seien ihre Figuren zu verstehen. Doch losgelöst davon geht es in ihren Romanen auch um allgemein menschliche Erfahrungen.
Im zweiten Teil der autofiktionalen Trilogie, dem Bestseller «Das Liebespaar des Jahrhunderts», lernen sich zwei Menschen kurz nach dem Zusammenbruch der DDR kennen. Dreissig Jahre später blickt die Ich-Erzählerin zurück, um zu ergründen, wann man sich entliebt hat. Sie möchte sich trennen, ohne es zu können.
In «Wild nach einem wilden Traum» denkt die Autorin nun stärker darüber nach, was ihr Schreiben für diejenigen bedeutet, die ihr nahestehen, ihren Mann und ihre Kinder. Oft ist sie für diese unerreichbar oder verliert die Nerven, weil das Schreiben wichtiger ist.
Dazu kommt die Zumutung der Autofiktion, bei der man über Lebende schreibt. «Man hinterlässt ein Feld der Zerstörung», heisst es im Roman. Doch versteht man das Schreiben als bedingungslose Tätigkeit, wie Schoch es tut, nimmt man Konflikte in Kauf.
Ihr Mann sei von «Liebespaar des Jahrhunderts» irritiert gewesen, sogar «menschlich enttäuscht», sagte Schoch dem «Süddeutsche Zeitung Magazin». Das Buch, seine Qualität, habe er aber gelobt, obwohl er als Figur darin vorkomme. «Es spricht für die Grösse meines Mannes, dass er das hinnimmt.»
Leben, als wäre es ein Roman
Da gilt es denn auch hinzunehmen, dass sie in ihrem neuen Roman der Ehe eine frühere Affäre entgegensetzt, von der sie sich eine persönliche Belebung erhofft. «Ich kehre zu einem Punkt zurück, da etwas hinter mir lag und etwas anderes vor mir», schreibt die Erzählerin. Zu dieser Zuversicht als junge Frau will sie zurückfinden.
Dass Julia Schoch dabei nicht dokumentarisch vorgeht, mag ihre Rechtfertigung sein. So schützt sie sich und die anderen. Alles ist literarisiert. Es ist selten von Eifersucht die Rede in «Wild nach einem wilden Traum» oder von einem schlechten Gewissen. Sie verweigert sich der banalen Gefühlsrealität, vermeidet jede Psychologisierung.
Vielmehr sieht sie ihr Leben selber als eine Geschichte. Sie gibt allem, was sie erlebt, eine Bedeutung. So lässt sich daraus eine gute Erzählung machen.
Julia Schoch: Wild nach einem wilden Traum. Biographie einer Frau. DTV, München 2025. 176 S., Fr. 34.90.