In keinem europäischen Land ist die Wirtschaft in letzter Zeit stärker geschrumpft als in Österreich. Das Land verliere an Wohlstand und es drohe ein verlorenes Jahrzehnt, mahnen Ökonomen.
Österreich findet nicht aus der Krise. Die beiden führenden Wirtschaftsforschungsinstitute Wifo und IHS korrigierten am Donnerstag ihre Schätzungen zum wiederholten Mal deutlich nach unten und rechnen nun auch für das laufende Jahr mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,3 (Wifo) beziehungsweise 0,2 (IHS) Prozent. Das bedeutet für das Land bereits das dritte Rezessionsjahr – es ist die längste Schrumpfungsperiode der Nachkriegszeit. Sie soll zwar Mitte Jahr endlich überwunden werden können. Die Konjunkturaufhellung wird aber laut den Prognosen nicht ausreichen, um für das Gesamtjahr ein BIP-Wachstum zu erzielen.
Damit bildet Österreich europaweit das Schlusslicht: Nirgendwo sonst in der EU oder in der OECD sei die Entwicklung ähnlich stark rückläufig, sagte der Wifo-Chef Gabriel Felbermayr. Man könnte sogar neidisch sein auf die Daten des ebenfalls krankenden Deutschland, ergänzte der Konjunkturexperte Marcus Scheiblecker. Für 2026 erwarten die Ökonomen nur ein schwaches Wachstum. Mittlerweile sei klar, dass die Krise in Österreich strukturell und nicht nur zyklisch sei.
Hiobsbotschaft für die neue Regierung
Die Gründe dafür sind teilweise importiert, aber zu einem grossen Teil auch hausgemacht, wie beide Institute betonen. Die Industrie leidet in der gesamten Euro-Zone, was sich in einem Land stark auswirkt, in dem dieser Wirtschaftszweig über einen Viertel zur Wertschöpfung beiträgt. Dazu kommt, dass der ebenfalls wichtige Export im vergangenen Jahr um fast 5 Prozent eingebrochen ist. Das hat allerdings mit einem der heimischen Probleme zu tun: Die praktisch automatische Anpassung der Saläre an die Inflation hat die Lohnquote explodieren lassen, sie wird laut dem Wifo 2026 fast 70 Prozent betragen. Das schadete der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und führte zur Verlagerung von Investitionen ins Ausland.
Felbermayr und auch der IHS-Chef Holger Bonin zeichneten insgesamt ein durchaus dramatisches Bild. «Wir werden ärmer», sagte Felbermayr – eine Tatsache, die wegen der gestiegenen privaten Einkommen pro Kopf vielen noch nicht bewusst zu sein scheint. Das liege indes an hohen Transferzahlungen sowie den Lohnsteigerungen und sei nicht durch reale Wirtschaftsleistung abgesichert, so der Wifo-Chef. Die Folge ist neben dem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit ein hohes Budgetdefizit.
Für die erst vor gut drei Wochen vereidigte Regierung des neuen Bundeskanzlers Christian Stocker von der konservativen ÖVP sind das Hiobsbotschaften. Dass die Haushaltslage desolat ist, war zwar nach der Wahl vom vergangenen September rasch klargeworden: Das Finanzministerium räumte im Herbst ein, dass das Budgetdefizit 2024 bei über 3 Prozent des BIP liegen und damit die Maastricht-Kriterien verletzen werde. Ein EU-Defizitverfahren wollte die neue Regierung aber unbedingt verhindern, was sie als Ziel auch im Koalitionsabkommen verankerte. Sie schnürte ein einschneidendes Konsolidierungspaket im Umfang von 6,4 Milliarden Euro, um damit das Defizit unter die für Brüssel relevante Marke zu drücken.
Nun zeigt sich, dass diese Massnahmen nicht ausreichen werden. Aufgrund der schlechteren Entwicklung rechnet das Wifo für 2024 mit einem Defizit von über 4 Prozent und auch für 2025 noch mit einem von 3,3 Prozent. Das Sparpaket müsse rund 12 Milliarden Euro betragen, um ein EU-Verfahren abzuwenden, erklärte Finanzminister Markus Marterbauer bereits zu Wochenbeginn im Budgetausschuss des Parlaments. Das drohte allerdings, die Konjunktur gänzlich abzuwürgen, und auch Felbermayr plädiert deshalb dafür, die geplanten Einsparungen tatsächlich umzusetzen und nicht weitere Milliarden zu «suchen».
Der Finanzminister warnt vor einer «Teufelsspirale»
Das hiesse, dass sich ein Defizitverfahren und damit stärkere Brüsseler Kontrollrechte kaum noch abwenden liessen. Für Österreich, das sich noch vor wenigen Jahren zu den «Sparsamen Vier» zählte und auf eine strikte Einhaltung der Fiskalregeln pochte, ist das eine Peinlichkeit. Insbesondere die Wirtschaftspartei ÖVP, die bis vor drei Wochen fast zwanzig Jahre lang den Finanzminister stellte, scheut dieses Eingeständnis denn auch. Bundeskanzler Stocker sprach am Donnerstag von einer besorgniserregenden Entwicklung. Er deutete vage mögliche weitere Konsolidierungsmassnahmen an, wenn es notwendig werden sollte.
Die Sozialdemokraten lehnen zusätzliche Einsparungen jedoch ab. Ihr Finanzminister warnte vor einer «Teufelsspirale» wegen der Auswirkungen auf die Konjunktur. Marterbauer bereitete kommunikativ auch bereits den Boden für ein Defizitverfahren. Ein solches sei «überhaupt kein Beinbruch», erklärte der linke Ökonom am Wochenende. Er fürchte sich nicht davor, die Budgetmassnahmen einmal im Quartal mit der EU-Kommission abzustimmen.
In Bezug auf ein Defizitverfahren gaben sich auch die Ökonomen Felbermayr und Bonin erstaunlich gelassen, trotz dem Reputationsschaden für Österreich. Sie appellierten aber eindringlich an die Regierung, mutige Strukturreformen umzusetzen. Diese müssten auch an Tabus rütteln und schmerzhaft sein, erklärte Bonin. Er nannte etwa eine Erhöhung des Rentenalters oder Lohnabschlüsse unter der Inflationsrate. Felbermayr warnte vor einer «lost decade», wenn nicht entschlossen gehandelt werde. Dann werde man 2029 auf ein Jahrzehnt ohne Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens zurückblicken.