Durch das chinesische KI-Startup Deepseek werden die Karten in der Tech-Industrie neu gemischt. Die Schweiz und Europa könnten davon profitieren, sagt der Google-Veteran Urs Hölzle. Doch dafür müssten sie ihre Mentalität ändern.
Herr Hölzle, Sie sind gerade von Ihrem Wohnort Neuseeland in die Schweiz gereist. Hat Ihnen ein KI-Agent den Reiseplan erstellt?
Solche Agenten sind noch zu experimentell, manchmal funktionieren sie, manchmal nicht. Wenn man sowieso alles nachprüfen muss, hat man keinen Zeitgewinn.
Das ist ernüchternd.
Generative künstliche Intelligenz ist stark darin, Ideen zu generieren. Wenn es aber um absolute Faktentreue geht, wird es schwieriger. Das ist dasselbe wie bei selbstfahrenden Autos: Der technologische Durchbruch geschah zwar schon vor zehn Jahren, doch kommerziell nutzbar sind sie erst heute. 99 Prozent Verlässlichkeit genügen nicht im Strassenverkehr, es müssen 100 Prozent sein. Das letzte Prozent ist immer das schwierigste. Bei KI ist das genau gleich.
Die KI-Industrie hat diese Woche einen Schock erlitten. Der chinesische Anbieter Deepseek hat mit viel weniger Aufwand eine vergleichbare Leistung wie das fortgeschrittenste Modell von Open AI erreicht. Noch vor kurzem wurde behauptet, die USA hätten mindestens ein Jahr Vorsprung auf die Chinesen. Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung?
Weil man von falschen Vorstellungen ausgeht. AI ist viel dynamischer, als dies dargestellt wird. Die Entwicklung verläuft sehr schnell, jeden Monat gibt es Überraschungen und Durchbrüche. Der Erfolg von Deepseek ist ein neuer Punkt in dieser Dynamik, aber er ist keineswegs so aussergewöhnlich, wie das nun dargestellt wird. Man hat sich zu sehr auf die Vorstellung versteift, dass AI von einer Handvoll Firmen dominiert werde. Doch niemand hat heute wirklich einen Vorsprung auf die Konkurrenz.
Deepseek behauptet, nur 5,6 Mio. Dollar investiert zu haben und Nvidia-Chips der vorletzten Generation zu verwenden. Halten Sie das für glaubwürdig?
Natürlich wissen wir nicht, ob sämtliche Kosten eingerechnet sind in dieser Zahl. Doch die Grössenordnung scheint plausibel. Deepseek ist kein Ausreisser. Seit dem ersten Modell von Chat-GPT sind die Kosten pro Anfrage um den Faktor 1000 gesunken. Vergleichbare Modelle wie Gemini Flash dürften sich bei den Kosten in ähnlichen Grössenordnungen bewegen.
Die KI-Industrie investiert dreistellige Milliardenbeträge. Wie kann es sein, dass die Entwicklung einzelner Modelle dann so billig ist?
Teuer ist die Entwicklung von ganz neuen und grossen Modellen. Von diesen lassen sich sehr günstig kleinere Modelle ableiten, der Prozess nennt sich Destillation. Sie sind im Betrieb viel günstiger, qualitativ aber praktisch gleichwertig.
Open AI wirft Deepseek vor, das Topmodell von Open AI für die Destillation gebraucht zu haben. Ist das plausibel?
Technisch ist es ohne weiteres möglich. Das ist genau der Prozess, wie kleine Modelle trainiert werden, allerdings tut man dies im Normalfall mit eigenen Modellen. Ob Deepseek das grosse Modell von Open AI dafür verwendete, kann nur Open AI sagen. Sie sehen das in ihren Abfragen.
Die USA wollten mit Exportrestriktionen für Hochleistungschips den Vorsprung auf China sichern. Das hat sich als Illusion herausgestellt.
Not macht erfinderisch. Das spielte wohl auch bei Deepseek eine Rolle. Dennoch würde ich Exportbeschränkungen nicht als wirkungslos abschreiben. Wir wissen das von anderen Beispielen. Die Sanktionen sind erst seit 18 Monaten in Kraft. Trotzdem wurden Hunderttausende von Hochleistungsgrafikkarten illegal aus den USA nach China exportiert. Man kann sie dort im Internet kaufen. Mit Verschärfungen sollen nun solche Schlupflöcher gestopft werden.
Deepseek hat zu einem Beben an der Börse geführt, allein Nvidia verlor knapp 600 Milliarden Dollar. Die Angst geht um, dass die investierten Milliardensummen abgeschrieben werden müssen.
Die heftige Reaktion zeigt, dass in den Börsenkursen sehr viel Hoffnung steckt. Ob das eine Blase ist oder nicht, werden wir erst in einigen Jahren mit Sicherheit wissen.
Sie haben die Sprachmodelle als Hype bezeichnet.
Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz verzeichnet schon seit 2012 enorme Fortschritte. In der Öffentlichkeit ist das Thema aber erst seit drei Jahren präsent, als die Sprachmodelle für das breite Publikum zugänglich wurden. Dass Maschinen plötzlich schreiben können wie Menschen, hat sehr viel ausgelöst. Deshalb sind wir heute vielleicht zu optimistisch.
Wo sehen sie die grössten Chancen für KI-Anwendungen?
AI ist letztlich nichts anderes als Datenanalyse mit mehr Finesse und mehr Möglichkeiten. Sie kann überall angewendet werden, wo es um komplexe Aufgaben geht. Ein Beispiel ist die Medikamentenforschung. Isomorphic Labs, eine Tochter von Googles Mutterkonzern Alphabet, hilft Pharmaunternehmen dabei, Substanzen für neue Wirkstoffe zu finden. Hier arbeiten wir bereits mit Novartis zusammen. Versicherungen können dank KI den Klimawandel besser verstehen und den Verlauf von Schäden und Katastrophen präziser modellieren. Der Maschinenindustrie kann KI beim Design von neuen Motoren helfen. Theoretisch ist das alles schon heute möglich, aber es braucht noch ein paar Jahre, bis die Anwendungen praxistauglich sind.
Europa gilt als hoffnungslos abgeschlagen in der KI-Entwicklung.
Das stimmt leider, nicht nur bei KI, sondern im ganzen Software-Bereich. Spotify ist nach SAP die einzige Firma aus Europa, die global bedeutend ist. Allerdings liegt der Wert von KI weniger in der Technologie als in der Anwendung. Anwender können alle sein. Das ist für die Schweiz mit ihren starken Unternehmen eine enorme Chance. Auch Europa hat noch immer sehr gute Firmen.
Aber?
Was mir aus amerikanischer Sicht auffällt ist, dass man in Europa 99 Prozent der Zeit damit verbringt, sich über Gefahren und Regulierungen neuer Technologien zu unterhalten und nur 1 Prozent über die Chancen. Es ist wichtig, dass man die Gefahren nicht ignoriert, aber ein Verhältnis 99 zu 1 ist sicher die falsche Proportion.
Auch Sie stammen aus einer Generation, die in der Technik vor allem die Gefahren und weniger die Chancen sieht. Waren Sie schon immer anders als Ihre Schweizer Altersgenossen?
Ich habe die Unterschiede erst nach ein paar Jahren Aufenthalt in Amerika so richtig realisiert. Wenn man als Schweizer in die USA kommt, bekommt man den Eindruck, die Leute seien alle naiv und voller Fortschrittseuphorie. Aber wenn man sich eingesteht, wie schwierig es ist, etwas umzusetzen, dann fängt man gar nicht erst damit an. Um neue Technologien zur Marktreife zu bringen, muss man naiv sein und sich selbst überschätzen.
Die Amerikaner versuchen es, während die Europäer zaudern?
Ja, in den USA führt dieser Optimismus dazu, dass die Leute es einfach probieren. Es scheitern dann zwar neun von zehn Projekten, aber eins hat Erfolg.
Sollten wir Europäer naiver werden?
Für Europa wäre ideal, wenn man von diesem Verhältnis 99 zu 1 wegkäme und wenigstens zu einem Verhältnis von 50 zu 50 käme. Viele haben den Eindruck, Nichtstun sei risikofrei. Aber das stimmt nicht. Das hat sich ja gerade bei der europäischen Autoindustrie gezeigt. Mittlerweile liegen Firmen wie Tesla oder chinesische Anbieter weit vorne. Im Silicon Valley hat man da eine ganz andere Philosophie. Ein früherer Chef von Intel prägte den Satz: «Only the paranoid survive.» Stillstand ist sehr gefährlich.
Wir in der Schweiz sind besonders konservativ. Laufen unsere Firmen Gefahr, abgehängt zu werden?
Ja, denn KI kann die Verhältnisse auf den Kopf stellen. Bis jetzt konnten Firmen ihre Konkurrenz auf Distanz halten, indem sie zum Beispiel Dinge herstellten, hinter denen ein sehr komplizierter Produktionsprozess steckt. Aber Konkurrenten können diesen Prozess künftig möglicherweise mit KI vereinfachen und dem bisherigen Branchenführer plötzlich gefährlich werden.
Jetzt tönen auch Sie plötzlich etwas pessimistisch.
Ich glaube, dass die Schweiz sehr gute Voraussetzungen hat und dass sie ihren Wohlstand dank KI sogar noch stark mehren kann. Es gibt ja eine Schätzung, wonach die generative KI, wenn sie richtig angewendet wird, das jährliche BIP der Schweiz um 80 bis 85 Milliarden Franken steigert. An dieses Potenzial glaube ich zwar, aber dafür muss man sich auch reinknien.
Wie ist die Situation bei den KI-Fachkräften? Google hat vor 20 Jahren den Anfang gemacht in Zürich, doch nun forschen hier auch Microsoft, Open AI und viele andere. Macht man sich jetzt gegenseitig die Spezialisten streitig?
Im Silicon Valley jagen sich die Firmen schon seit 50 Jahren die Spezialisten ab. Für Google ist diese Konkurrenz natürlich anstrengend, für die Schweiz aber ist das eine Chance. Als wir angefangen haben in Zürich, gab es keine Hightech-Szene, wenn man von IBM in Rüschlikon absieht. Heute hat die Schweiz ein Ökosystem mit einer kritischen Masse.
Aber alle Firmen werben doch um die gleichen Fachleute.
Ein Problem hätten wir nur, wenn es einen fixen Pool an Ingenieuren gäbe, um den sich alle streiten. Das ist nicht der Fall, denn wenn man einmal ein genügend grosses Ökosystem hat, zieht das weitere Menschen an. Aus dem Ausland, aber auch frisch ab der Uni. Nachwuchskräfte lernen von Experten, und der Pool wächst weiter.
Die Schweiz wird von den USA nicht zum Kreis jener vertrauenswürdigen Länder gezählt, die einen unbeschränkten Zugang zu Hochleistungs-KI-Halbleitern und Grafikprozessoren (GPU) erhalten. Ist das ein Problem für Google und den Forschungsstandort Schweiz?
Für uns nicht, weil wir ja auch auf Rechner zurückgreifen könnten, die anderswo stehen. Ich beschäftige mich nur am Rand mit solchen Regulierungen, aber mein Eindruck ist, dass es noch ziemlich unklar ist, wie diese Regeln implementiert werden. Das Problem ist ja nicht gelöst, indem man nur den Verkauf von GPU beschränkt, denn chinesische Firmen können diese ja auch einfach mieten, indem sie eine Cloud benützen. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass wir als Cloud-Anbieter eine Know-your-customer-Regelung einführen müssen, wie das heute schon die Banken haben.
Die Politik hofft, dass Firmen wie Google der Schweiz helfen können, diese Restriktionen zu beseitigen. Was denken Sie?
Da bin ich, ehrlich gesagt, zu wenig nah dran. Aber mein Eindruck ist, dass die frühere US-Regierung diese Regelung noch schnell vor dem Machtwechsel erlassen hat. Sie ist vielleicht zu schnell entstanden und nicht wirklich durchdacht. Ich glaube nicht, dass diese Restriktionen in Stein gemeisselt sind. Vor allem ist ein solcher Mein-Computer-ist-grösser-als-dein-Computer-Ansatz kein wirkliches Hindernis für die hiesigen Firmen.
Wieso nicht?
Die Rechenleistung ist kein limitierender Faktor für die Anwendung von KI. Eine solche Regel hindert Novartis nicht daran, mit KI neue Moleküle zu entdecken. Selbst für den Fall, dass jemand ein eigenes Sprachmodell entwickeln will, ist die Anzahl GPU nicht mehr so entscheidend. Die Systeme werden massiv effizienter, da braucht es gar nicht mehr so viele GPU.
Sie sind mitverantwortlich, dass Google überhaupt in die Schweiz gekommen ist. Hat sich die Stadt Zürich eigentlich einmal bei Ihnen bedankt?
Es sind natürlich alle happy, dass es so herausgekommen ist. Aber das war eine organische Entwicklung. Wir haben vor 20 Jahren nicht in Mountain View entschieden, dass Zürich zum grössten Standort in Europa werden soll. Es begann als Experiment. Am Anfang waren bloss vier Leute hier. Dass es nun 5000 sind, zeigt, dass die Schweiz gute Rahmenbedingungen bietet, und darauf hatte ich persönlich null Einfluss.
Wieso hat es so gut funktioniert mit Google und Zürich?
Das erste Team, das in Zürich an Youtube gearbeitet hat, war sehr gut. Dank seinen Leistungen kam die Idee, zusätzliche Projekte in Zürich zu verfolgen, wie zum Beispiel Google Maps. So ist der Standort immer weiter gewachsen. Ein wichtiger Grund für den Erfolg war, dass es einfach war, Arbeitsbewilligungen für ausländische Fachkräfte einzuholen. Das verdanken wir auch der Wirtschaftsförderung in Zürich.
War der einfache Zugang zu ausländischen Fachkräften entscheidend, dass Zürich bei der Standortwahl vorne lag?
Wir haben diese Wahl damals weitgehend unseren Ingenieuren überlassen. Deutschland zum Beispiel stand auch zur Diskussion, aber dort wäre es viel schwieriger geworden, Spezialisten aus dem Nicht-EU-Raum anzustellen. Das sprach gegen Deutschland. Die ersten vier Mitarbeiter in Zürich waren zwei Deutsche, ein Österreicher und ein Schwede, und trotzdem haben sie sich nicht für eines ihrer Heimatländer, sondern für den Standort Schweiz entschieden.
Vermissen Sie eigentlich Ihren Manager-Job? Sie haben ja immerhin 20 000 Mitarbeiter geführt.
Ich habe das 15 Jahre gemacht, und es hat mir Spass gemacht. Aber ich vermisse das nicht. Ich war früher ja Professor und wollte zurück zum wissenschaftlichen Arbeiten, näher an die Technik. Wenn man Chef von 20 000 Mitarbeitern ist, muss man diese Dinge delegieren. 80 Prozent der Zeit war ich mit dem Betrieb und der Organisation beschäftigt.
Wieso sind Sie von Kalifornien nach Neuseeland gezogen?
Meine Frau und ich haben uns nach 30 Jahren in den USA die Frage gestellt, ob wir die nächsten 30 Jahre ebenfalls dort verbringen sollen. Die Antwort war: «Nein.» Neuseeland hat uns schon immer gut gefallen, und das ist auch sehr gut praktikabel, wenn man wie ich vor allem mit Menschen in Kalifornien zusammenarbeitet. Der Zeitunterschied beträgt je nach Jahreszeit nur drei bis fünf Stunden.
Manager und Forscher
Urs Hölzle stiess als achter Mitarbeiter zu Google. Der Baselbieter studierte Informatik an der ETH Zürich und doktorierte an der amerikanischen Elite-Universität Stanford. Dort lernte er die beiden Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin kennen. Beim Tech-Riesen war Hölzle für den Aufbau der technologischen Infrastruktur verantwortlich. 2023 zog er sich aus dem Management zurück und widmet sich als Senior Fellow nun wieder der Forschung. Seine wichtigsten Gebiete sind Energieeffizienz und IT-Sicherheit.
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