Der 36-jährige St. Galler umrundete die Erde in 99 Tagen, doch die Zeit war für ihn zweitrangig. Nun will Heer ein neues Boot kaufen – er plant bereits das nächste Abenteuer.
An einem Tag Anfang Januar steht Oliver Heer auf dem Deck seiner Rennjacht. Eisiger Wind pfeift ihm ins Gesicht, Schneeregen fällt. Heer, 36 Jahre alt, ist allein im Südpazifik, er segelt an der Vendée Globe um die Welt. Sein Radargerät hat seit Wochen keine Objekte mehr angezeigt. Doch jetzt schrillt der Kollisionsalarm durchs Schiff. Eisberg voraus.
Der Eisberg ist 350 Meter lang, 150 Meter dick – und nur einen Kilometer von seinem Schiff entfernt. Die Dämmerung setzt ein, Heer macht sich Sorgen. Strömung und Wind treiben Eisbrocken in seine Richtung. Stundenlang harrt er in der Kälte auf dem Deck aus, blickt auf die endlose Wasserfläche, bis seine Augen tränen. In jeder Schaumkrone glaubt er ein Stück Eis zu erkennen. Er fürchtet sich.
Kollidiert er mit dem Eis, wird es gefährlich. Das Schiff könnte Schaden erleiden, dann müsste er tagelang auf Rettung warten, die Vendée Globe vielleicht aufgeben. An diesem Abend im Südpolarmeer droht sein grosser Traum zu platzen. Heer sagt: «Dass ich einen Eisberg gesehen habe, war der prägendste Moment an der Vendée Globe. Es war beeindruckend, aber auch purer Stress.»
In der Hälfte der Strecke dümpelt er in einer Flaute
Wenig später ist alles ganz anders. Heer langweilt sich. Er steckt im Südpazifik in einer Flaute fest, hat erst die Hälfte der Strecke um den Erdball absolviert. Und jetzt kommt er nur noch 20 statt wie vorher 700 oder 800 Kilometer pro Tag voran. «Das war das härteste Erlebnis. Ich habe mich gefragt, was ich eigentlich mache und ob ich es überhaupt ins Ziel schaffen werde. Das waren schlechte Gedanken», sagt Heer. Zur Ablenkung hört er Podcasts, telefoniert mit der Familie. Heer zählt die Essensrationen und befürchtet, dass er die Nahrung rationieren muss.
Aber Heer übersteht sowohl die Situation mit dem Eisberg als auch die Flaute. Und wird sechs Wochen später zum ersten Deutschschweizer, der die Vendée Globe beendet. Der Rapperswiler ist Anfang November in Les Sables-d’Olonne an Frankreichs Atlantikküste in See gestochen, hat die Erde alleine und ohne Zwischenstopp umrundet. In 99 Tagen hat er das geschafft. Das reichte für Rang 29, doch Platzierung und Zeit sind für ihn zweitrangig.
Die Menschenmassen im Eishockeystadion werden ihm zu viel
Es sind einige Wochen vergangen, seit 3000 Zuschauerinnen und Zuschauer Heer im Hafen von Les Sables-d’Olonne empfangen haben. «Ich bin immer noch energiegeladen, schlafe in der Nacht kaum mehr als zwei Stunden am Stück», sagt er. Die permanente Anspannung und die kurzen Schlafpausen, die selten mehr als anderthalb Stunden dauerten, stecken ihm in den Knochen – Heer hat die Vendée Globe noch nicht verdaut.
Eine Woche nach der Rückkehr in die Schweiz besucht er einen Eishockeymatch der Rapperswil-Jona Lakers, steht nach Wochen alleine auf den Weltmeeren wieder inmitten von Menschen. Heer sagt: «Das war mir zu viel, das Gedränge, der Lärm, die Gerüche.» Solche Erlebnisse bespricht er jeweils mit seinem Sportpsychologen. «Er sagte mir, dass ich an einer Form von posttraumatischer Belastungsstörung leide. Auch wenn ich mich niemals mit jemandem vergleichen würde, der im Krieg gewesen ist», sagt Heer.
Noch Wochen nach der Ankunft ist sein Körper in Alarmbereitschaft, Heer steht unter Strom. Er sagt, ihm werde schnell langweilig, bei ihm müsse immer etwas laufen. «Einen Abend lang Netflix schauen oder in den Ferien tagelang am Strand liegen, das kann ich nicht», sagt er. Statt eine Pause zu machen, arbeitet Heer darum weiter.
Er sucht neue Sponsoren für sein Segelteam, hält Vorträge, hat Sitzungen mit Partnern. Wenn er über sein Projekt spricht, benutzt er Begriffe wie «Startup-Kampagne», «Revenue-Stream» und «Price-Tag». Heer ist Skipper und CEO seiner Equipe in Personalunion, trägt das finanzielle Risiko. Er sagt: «Ich bin öfter im weissen Hemd an Meetings als im Ölzeug auf dem Meer.»
Heer startet ohne Sponsoren und sagt: «Ich stand mit dem Rücken zur Wand»
Er hat die Vendée Globe mit einem der kleinsten Budgets aller Teilnehmer beendet, drei Millionen Franken hat das Abenteuer gekostet. Heer hat für das Segeln eine Karriere in der Finanzindustrie aufgegeben, er hat früher in Hongkong gearbeitet, verdiente gut, hatte ein bequemes und sicheres Leben. Doch dann stirbt sein Vater plötzlich, und Heer fragt sich, ob er jahrzehntelang so weitermachen will. Schon als Student verdiente er sich als Crewmitglied an kleineren Regatten ein paar Franken dazu. Jetzt setzt Heer alles auf eine Karte, «all in», nennt er das. Er kündigt seinen Job und absolviert in Grossbritannien die Ausbildung zum Profi-Hochseesegler.
Dort lernt er Alex Thompson kennen, einen walisischen Skipper, der ihn in sein Team aufnimmt. Die beiden segeln über die Jahre 60 000 Seemeilen zusammen, kennen sich in- und auswendig. Thompson hat die Vendée Globe 2013 und 2017 auf dem Podest beendet, 2020 muss er aufgeben – und wendet sich danach anderen Aufgaben im Segelsport zu. Er sagt noch zu Heer, es sei jetzt an ihm, sich dieser Herausforderung zu stellen. Heer sagt: «Ich habe meine Frau und meine Mutter um Erlaubnis gefragt. Sie glaubten nicht so recht daran, lachten und meinten: ‹Versuch es nur.›»
Heer nimmt das als Antrieb, kratzt jeden Franken zusammen, gründet ein eigenes Team, kauft ein älteres Boot. Sponsoren hat er am Anfang noch keine. Die Vendée Globe ist in Frankreich Kult und in der Westschweiz bekannt, in der Deutschschweiz hingegen interessiert sich kaum jemand für die Regatta. «Ich stand von Anfang an mit dem Rücken zur Wand. Doch mein Traum drängte derart stark, dass ich unbedingt loslegen wollte», sagt Heer. Erst nach und nach findet er Geldgeber.
Zum Znacht eine Dose Baked Beans – für mehr fehlt das Geld
Manchmal hat er auf dem Bankkonto einen Negativsaldo von 15 000 Franken. Dann muss Heer den Bankberater am Telefon beschwichtigen, ihm versichern, in einigen Tagen komme die nächste Tranche Sponsorengeld. Das Geld ist bisweilen so knapp, dass kaum etwas für ein Abendessen für ihn und seine Frau übrigbleibt. Es gibt dann eine Dose Baked Beans, dazu ein Baguette, bezahlt mit Münzen, die Heer im Hosensack findet. Er sagt: «Ich bin vielleicht etwas blauäugig in die Vendée Globe hineingegangen. Aber ich bin sehr glücklich jetzt.»
Dank einer Wildcard schafft es Heer schliesslich an die härteste Segelregatta der Welt. Er weiss schon vor dem Start, dass er nicht um die Spitzenplätze segeln wird, dafür ist sein Boot zu alt. Er sagt, er sei ein risikoarmes Rennen gesegelt, ins Ziel zu kommen, habe über allem gestanden: «Ich habe mich darauf eingestellt, dass ich vor allem lernen werde. Hätte ich mich mit den Spitzenseglern verglichen, hätte ich mir die Vendée Globe versaut.»
Sein grosser Traum aber ist wahr geworden. Und Heer steckt sich bereits die nächsten Ziele. Er will ein neues, schnelleres Boot kaufen und damit 2027 am Ocean Race teilnehmen, einer Weltumrundung im Team mit Zwischenstopps. Dieses Rennen sei für Sponsoren interessanter, sagt Heer. Sein Fernziel ist die Vendée Globe 2028. Dann will er schneller segeln, das Boot pushen, ans Limit gehen.
Zuerst macht Heer endlich Ferien. Seine Ehefrau hätte Lust auf einen Segeltörn.