Der Hochsee-Kapitän Silvan Paganini zog zurück an den Bodensee, um ein ruhigeres Leben zu führen. Doch auf dem Grund wartete das Wrack der «Säntis» auf ihn.
Silvan Paganini hat lange auf die Bergung des Dampfschiffs «Säntis», der «Titanic des Bodensees», hingearbeitet. Im April 2023 hatte er das Projekt öffentlich angekündigt, dann Geld gesammelt, die Bewilligung eingeholt. Es wurde Winter, es wurde Frühling. Zuerst stimmte das Wetter nicht, dann versagte das Material. Und der erste wirkliche Versuch im April scheiterte. Doch es musste weitergehen. «Nichtsdestotrotz», wie Paganini gerne sagt.
Am Sonntag, dem 26. Mai, schien alles zu passen. Die tonnenschwere und mehrere Meter lange Hebeplattform, die das Wrack mithilfe von Ballonen an die Oberfläche ziehen sollte, war über der «Säntis» positioniert, der Himmel strahlend blau, die Mannschaft motiviert. Die Plattform wurde langsam im Wasser abgesenkt. Bis 20 Meter Tiefe lief alles wie geplant.
Doch plötzlich ging alles schnell, zu schnell. Eine Seilwinde drehte sich immer wilder, das Stahlseil, das darumgewickelt war und die Plattform hielt, wurde in den Abgrund gerissen. Die Arbeiter versuchten hektisch, die tonnenschwere Plattform unter Wasser unter Kontrolle zu bringen. Vergeblich. «Weg, weg, weg», schrien sie. Die Mitarbeiter brachten sich in Sicherheit. 210 Meter unter ihnen trafen Tonnen von Stahl, Kabeln und Ballonen unkontrolliert auf ein über hundert Jahre altes Wrack. Mehrere Bremsvorrichtungen hatten versagt.
Darauf hatten die Kritiker nur gewartet.
Das Projekt sei nun endgültig gescheitert, erklärte Paganini live im Fernsehen. Es sehe «schlimm» aus auf dem Grund des Sees, sagte er mit starrem Blick und rotem Kopf gegenüber Blick-TV. Die Bilder seines Tauchroboters zeigten verbogenen Stahl, verhedderte Leinen, zerknautschte Hebeballone in 210 Meter Tiefe. Es gehe jetzt um «Schadensbegrenzung». Tausende Stunden Arbeit von Freiwilligen und Tausende Franken von Spendern zerbarsten auf dem Seegrund. Das Schiff aber blieb laut Angaben von Paganini fast unbeschädigt.
Hat sich der Einsatz gelohnt? «Das müssen Sie mich in einem Jahr fragen», sagt Paganini der NZZ am Tag danach.
Binnengewässer statt Weltmeere
Der Gossauer Silvan Paganini war eigentlich in die Schweiz zurückgekehrt, um ein ruhigeres Leben zu führen. Mehrere Jahre lang hat er als Hochseekapitän riesige Schiffe über die Weltmeere gesteuert, Pipelines verlegt, Bohrtürme auf Plattformen gehievt oder sie wieder abtransportiert.
Hohen Druck ist Paganini von dieser Arbeit gewohnt. Auf dem Meer arbeitete er im Schichtbetrieb. 35 Tage schuftete er an Bord, meistens mehr als 12 Stunden pro Tag. Danach konnte er 35 Tage entspannen, wo auch immer er wollte – die Firma buchte den Flug. Nach fünf Wochen kehrte er zur nächsten Schicht zurück.
Für Paganini bedeute das Freiheit. Bis er eine Familie gründete und die Pandemie ausbrach. Wegen mehrerer Corona-Infektionen an Bord durfte er seinen Arbeitsplatz über Monate nicht verlassen. Das Schiff auf hoher See verwandelte sich in ein schwimmendes Gefängnis.
Darum zog es ihn und seine Familie zurück in die Heimat, an den Bodensee. 2022 heuerte Paganini bei der Schweizerischen Bodensee-Schifffahrt AG an. Von da an war er als technischer Leiter dafür zuständig, dass die Ausfahrtsschiffe auf dem See fahrtüchtig bleiben. Ein Hochseekapitän auf dem Binnengewässer, fordernd war dies kaum. Doch es dauerte nur ein Jahr, da hatte Paganini seine nächste Herausforderung gefunden. Die «Säntis».
Die «Titanic des Bodensees»
Die «Säntis» wird auch «Titanic des Bodensees» genannt. Sie fuhr mit demselben Antrieb wie das berühmte Schiff, einer Drei-Zylinder-Dampfmaschine, das ist selten. Beide Schiffe sanken über Bug – die «Titanic» traf einen Eisberg, die «Säntis» aber wurde absichtlich versenkt. Nach vierzig Jahren Dienst wurde sie 1933 an den Grund des Bodensees verlegt, weil verschrotten damals zu teuer war.
Die Idee, das Schiff zu bergen, reift schon lange. 1943 prüfte die damalige Besitzerin, die SBB, eine Bergung, verwarf sie aber wieder. Das Schiff geriet in Vergessenheit, irgendwann wusste man nicht mehr, wo es genau liegt. 2013 wurde es bei Vermessungsarbeiten zufällig wiederentdeckt. Dank Süsswasser, der Dunkelheit und der Sauerstoffarmut ist das Wrack hervorragend erhalten.
Im Juni 2022 feierte die «Säntis» den 130. Geburtstag. Paganini verschickte zu diesem Anlass eine Medienmitteilung. Die Bergung sei technisch möglich, aber durch seinen Arbeitgeber, die SBS, nicht zu stemmen, sagte er damals. Viele verstanden dies als indirekten Aufruf, sich als Freiwillige zu melden.
Zuerst war Paganini skeptisch. Erst als sich Spezialisten, Geologen, Schiffbauer, Statiker meldeten, die mithelfen wollten, fing er mit seinen Mitstreitern an zu rechnen und zu planen. Es entstand ein Verein, ein Team mit einer Mission. Paganini wurde ihr Präsident. Der Zeitpunkt für eine Bergung schien reif.
Paganini kostete das Projekt fast das Leben
Rund lief es nie. Das nötige Geld, mehr als 200 000 Franken, kam erst in den letzten Tagen des Crowdfundings zusammen. Die Behörden stellten eine befristete Bewilligung für die Bergung anstelle einer Konzession aus. Die Tauchroboter verhedderten sich, Leinen rissen. Irgendwann war die erste Bewilligung abgelaufen, und Paganini hatte seine Ferien aufgebraucht. Aus dem Hobby, das Paganini wie so viele seiner Helfer neben der Arbeit stemmte, war eine hochkomplexe Mission geworden. «Manchmal hatte ich das Gefühl, die ‹Säntis› wehre sich», sagt Paganini.
Doch das Projekt ging weiter. Paganini wusste die Sehnsüchte seiner Mitstreiter zu kanalisieren, zu zügeln, wo nötig, und anzutreiben, wenn die Zeit drängte. Er verschickte Medienmitteilungen, gab Interviews und dokumentierte Erfolge und Rückschläge in den sozialen Netzwerken. Er wusste die Emotionen anzusprechen, verglich die Bergung mit der Besteigung des Mount Everest, die Beharrlichkeit des Vereins mit jener des Erfinders der Glühbirne Thomas Edison. Und als es wieder einmal schieflief, zitierte er Albert Einstein. Alles im nüchternen, analytischen Ton. Emotional wurde es für ihn erst zwei Wochen vor Ende des Projekts.
Paganini betonte immer: Ausser Material sollte bei diesem Projekt nichts und niemand zu Schaden kommen. Lieber verschob er einen Test auf See wegen unsicherer Wetterprognosen und ärgerte sich danach über das schöne Wetter.
Doch der Zeitdruck liess Paganini seine eigenen Prinzipien vergessen. Mitte Mai tauchte er alleine auf 1,5 Meter ab, um einen Knoten zu lösen. Er wollte Zeit gutmachen. Dann verhedderte er sich, konnte sich nur befreien, indem er die Taucherausrüstung auszog. Die Luft war ihm fast ausgegangen. Zwei Tage später war der Schock verarbeitet. Die Mission ging weiter.
Das Schiff bleibt unten – vorerst
Dieses Jahr wird die «Säntis» definitiv am Grund des Bodensees bleiben. Am Montag nach der gescheiterten Bergung verschickte Paganini eine Medienmitteilung, wohl die letzte für längere Zeit. Von «Trauer und Enttäuschung» ist darin die Rede, von der «Säntis» als Mahnmal, das an «Gefahren und Herausforderungen erinnert, mit denen die Seefahrt konfrontiert war». Zeit, sich nach der Niederlage auszuruhen, fehlt.
Der Verein muss sich nun damit befassen, das Bergematerial, das nun auf dem Grund des Sees liegt, wieder zu entfernen. Diese Bergung sei genauso komplex wie die Bergung des Wracks, sagt Paganini am Montag, und sie muss gelingen. So lautet der Deal mit dem Kanton. Das Geld, das für die Konservierung des Schiffes vorgesehen war, wird nun dafür gebraucht.
Ein weiterer Versuch zur Bergung der «Säntis» ist nicht ausgeschlossen. «In den kommenden Jahren werden möglicherweise weitere Bemühungen unternommen, das Wrack zu bergen und seine Geheimnisse zu enthüllen», heisst es in der Medienmitteilung. Paganini hofft, dass der Verein die Leinen, die er mühsam unter dem Schiff gezogen hat, dort belassen darf. Ob er bei einem weiteren Versuch selbst mitwirken will, lässt Paganini offen. Wenn das Budget stimme und nicht nur Freiwillige mitwirkten, dann vielleicht ja, sagt er. Die Idee der Bergung, sie lebt weiter.