Als Finanzminister hat er die Wirtschaft liberalisiert und den Staat vor dem Bankrott gerettet, später hat er als Regierungschef die Partnerschaft mit den USA begründet. Selbst seine Gegner schätzten seine Integrität und Bescheidenheit.
Manmohan Singh wurde in Indien der «accidental prime minister» genannt. Als er 2004 zum Regierungschef ernannt wurde, sahen viele Inder dies als Unfall der Geschichte. Der scheue, schweigsame Ökonom galt als Politiker wider Willen und als Technokrat ohne eigene Machtbasis. Doch letztlich hielt sich der Sikh mit dem ikonischen blauen Turban nicht nur zwei Amtszeiten an der Macht, sondern legte mit seinen liberalen Wirtschaftsreformen auch die Grundlagen für den Aufstieg Indiens. Am Donnerstag ist der Veteran der Kongresspartei nun im Alter von 92 Jahren in Delhi gestorben.
In Indien bleibt Singh ebenso in Erinnerung für seine zehn Jahre an der Spitze der Regierung wie für seine Amtszeit als Finanzminister. Als er 1991 von dem damaligen Premierminister Narasimha Rao in die Regierung berufen wurde, kam dies überraschend – nicht zuletzt für Singh selbst. Der Wirtschaftsprofessor hatte sich zwar auf seinen vorherigen Posten als Chefökonom der Regierung, als Gouverneur der Zentralbank und als Vizechef der Planungskommission einen Namen gemacht. Doch war er ein Experte, kein Politiker.
Rao brauchte jedoch jemand, der etwas von Wirtschaft verstand. Denn das Handelsbilanzdefizit war riesig, die Inflation stieg bedrohlich, und die Devisenreserven reichten gerade noch, um zwei Wochen die Importe zu bezahlen. Der Wirtschaft drohte der Kollaps, und der Staat stand kurz vor dem Bankrott. In dieser Situation entschied sich Singh, das als «Licence Raj» bekannte System der Planwirtschaft abzuschaffen und die sozialistisch geprägte Wirtschaft zu liberalisieren.
Die Wirtschaft erhielt durch die Reformen einen Schub
Bis dahin hatten indische Unternehmen für alles eine Lizenz benötigt. Der Staat hatte über die Mengen und die Preise bestimmt und entschieden, welche Güter produziert, was importiert und was exportiert werden durfte. Durch seine Zeit in der Planungskommission kannte Singh dieses System gut, doch war er aus seinem Studium in Cambridge und Oxford auch mit der liberalen Wirtschaftstheorie vertraut. Angesichts der Krise lockerte Singh die staatliche Kontrolle, öffnete die Wirtschaft und setzte damit neue Kräfte frei.
Als die Kongresspartei 2004 nach einer Phase in der Opposition erneut die Wahlen gewann, erwarteten alle, dass Sonia Gandhi die Führung der Regierung übernehmen würde. Die italienischstämmige Witwe des bei einem Attentat getöteten früheren Premierministers Rajiv Gandhi war das unbestrittene Machtzentrum der Kongresspartei. Wegen ihrer ausländischen Herkunft war sie jedoch scharfen Angriffen der Hindu-nationalistischen Opposition ausgesetzt.
Um ihren Kritikern keine weitere Angriffsfläche zu bieten, verzichtete Sonia Gandhi auf das Amt der Premierministerin. An ihrer Stelle wählte ihre Partei den damals 71-jährigen Singh zum Regierungschef. Da Gandhi im Hintergrund weiter die Strippen zog, schmähte die Opposition Singh als Marionette ohne eigene Macht und warf ihm vor, schwach und unentschieden zu sein. Am Ende hielt er sich jedoch länger an der Macht als die meisten seiner Vorgänger.
Singh wurde geschätzt als konziliant, bescheiden und integer
Ein wichtiger Grund dafür war, dass Singh es verstand, zwischen den verschiedenen Parteien der Koalitionsregierung zu vermitteln. Er hörte aufmerksam zu, gab anderen Ansichten Raum und liess auch kritische Positionen zu. Singh war der erste Sikh an der Spitze der Regierung, und sein Kabinett spiegelte die religiöse und regionale Vielfalt Indiens wider. Auch wenn seine Regierung am Ende mit schweren Korruptionsvorwürfen konfrontiert war, galt er persönlich als absolut unbestechlich und bescheiden.
Als Premierminister setzte Singh die liberalen Reformen fort, die er als Finanzminister Anfang der neunziger Jahre begonnen hatte. Er baute die Infrastruktur aus, holte ausländische Investoren ins Land und förderte die Softwarebranche. Mit dem indisch-amerikanischen Atomabkommen von 2008, in dem Indien zusagte, seine zivilen Atomanlagen für internationale Inspektionen zu öffnen, legte Singh die Grundlage für die bis heute währende Partnerschaft mit den USA.
Mit Wachstumsraten von 9 Prozent erlebte die Wirtschaft unter Singh einen Boom. In seiner zweiten Amtszeit wurde dieser Erfolg aber von mehreren riesigen Korruptionsskandalen bei der Vergabe von Kohle- und Telekommunikationslizenzen überschattet. 2014 verlor Singhs Partei deshalb die Wahl an die Hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) von Narendra Modi. In den letzten Jahren äusserte sich Singh besorgt über die wachsende politische Polarisierung unter Modi. Indien wird sein konziliantes, ausgleichendes Temperament vermissen.