Barrie Kosky nimmt bei seiner Neuinszenierung von Puccinis erstem Welterfolg das Frauenbild in den Blick: In Zürich soll die selbstbewusste Manon nicht mehr bloss Projektionsfläche für männliche Moralvorstellungen sein.
Das wilde Weib ist selber schuld an seiner Misere. Warum begnügt sich diese aufmüpfige Person nicht einfach mit der ihr zugedachten Rolle, schön auszusehen, den Männern zu Willen zu sein und im Übrigen ihre Tage in einem goldenen Käfig zuzubringen wie eine Singdrossel? Stattdessen will sie über ihr Leben frei bestimmen und sich, Gipfel der Anmassung, sogar ihre Liebhaber selbst aussuchen! Kein Wunder, dass die Sache böse ausgeht: Die selbstbewusste Frau wird umgehend in die Verbannung geschickt und verschmachtet elend in einer Wüste. Die versammelte Männerwelt aber kann sich die Hände reiben: Die Anfechtung wurde beseitigt, der Moral ausreichend Genüge getan. Doch halt: Irgendetwas stimmt hier nicht.
Der Komponist, der das Schicksal der Frau auf die Bühne gebracht hat, hegt unverkennbar Sympathie für seine strauchelnde Heldin. Er ist sogar selbst anwesend bei dem Geschehen: in Gestalt eines leidenschaftlichen Tenors, der für sie sein bürgerliches Leben hinter sich lässt und die Verstossene bis zu ihrem traurigen Ende begleitet. Der Komponist ist Giacomo Puccini; die Frau aber, die sich den Moralvorstellungen ihrer Epoche nicht fügen will, ist die Titelheldin seiner dritten Oper, «Manon Lescaut», die Puccini den ersten Welterfolg bescherte.
Das Stück stand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotzdem lange im Schatten der nachfolgenden, noch erfolgreicheren «La Bohème». Vermutlich auch, weil die Nachkriegszeit wenig anzufangen wusste mit der freigeistigen Botschaft und dem unkonventionellen Frauenbild des Stücks. Genau hier setzt die Neuinszenierung von Barrie Kosky an, die jetzt am Opernhaus Zürich mit nahezu einhelliger Begeisterung aufgenommen wurde.
Identifikation mit den Figuren
Wahrscheinlich hat Puccini nie wieder so frisch und frech komponiert wie bei diesem seinem «Durchbruch» von 1893. Er findet sich hier musikalisch selbst – wie einst Richard Wagner im ähnlich genialisch hingeworfenen «Fliegenden Holländer» oder später Richard Strauss mit der «Salome». Die glutvolle Melodik, die raffinierte Orchesterbehandlung – alles ist da. Vor allem aber spürt man hier zum ersten Mal jene rückhaltlose Identifikation des Komponisten mit seinen Bühnenfiguren, die fortan für alle Puccini-Opern prägend wird. Dies führt zum entscheidenden Punkt: Puccini will und kann Manon in ihrem Streben nach Selbstbestimmung nicht verurteilen, er muss mitfühlen und mitleiden.
Kosky gewinnt daraus sein überzeugendes Konzept für die Neuproduktion: Manon ist nicht einfach die erste der zahllosen Puccini-Heroinen, die an der Liebe eines Mannes zugrunde gehen – sie erscheint hier klar als Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der Sopranistin Elena Stikhina hat die Aufführung dafür eine ideale Interpretin. Sie hat in Zürich 2021 als Salome debütiert und bringt etwas von dem Selbstbewusstsein der Prinzessin von Judäa nun auch in ihr Porträt der Manon ein. Die ist bei ihr noch keine Femme fatale, die Johannes den Täufer einen Kopf kürzer machen lässt; aber sie bleibt stets unberechenbar, kapriziös, lebt ihre Lust an schönen Dingen ungehemmt aus. Und macht dabei deutlich: Sie will nicht bloss Projektionsfläche für männliche Moralvorstellungen sein.
Zwangsläufig eckt sie damit an. Kosky funktioniert den allgegenwärtigen Chor deshalb konsequent im Sinne der griechischen Tragödie um: zu bösen Kommentatoren, wie später im epischen Theater, die Manon jederzeit mit ihrer Ablehnung konfrontieren. Und zwar schon äusserlich: Der szenisch beeindruckend agile Hauschor, einstudiert von Ernst Raffelsberger, trägt Masken, die karikaturistisch ins Fratzenhafte verzerrt sind. Die Vorbilder dafür und für die in schrägem Rokoko gehaltenen Kostüme von Klaus Bruns stammen aus Bildern des belgischen Malers James Ensor. Der Puccini-Zeitgenosse ist mit seinen Darstellungen einer morbiden Karnevalsgesellschaft (einschliesslich Totenköpfen und Klapperskeletten) in die Kunstgeschichte eingegangen.
Kutschenparade mit falschen Pferden
Die Maskierung, die in Wahrheit eine Demaskierung ist, schärft wiederum den Fokus auf die unmaskierten Protagonisten – was vor allem den etwas unübersichtlichen Ensembleszenen im ersten und dritten Akt hilft. Auch für den sozialen Aufstieg Manons und den bald folgenden Absturz finden Kosky und sein Ausstatter Rufus Didwiszus phantasievolle Sinnbilder: Manon rollt nacheinander in einer Reihe von Kutschen herein, gezogen von verblüffend echt wirkenden Pferden. Im eröffnenden Bild in Amiens zunächst in einem historischen Postwagen; dieser verwandelt sich im Paris-Akt, passend zum äusseren Höhepunkt ihres Daseins als juwelenbehangene Kurtisane des reichen Geronte (Shavleg Armasi), in eine goldene Prunkkarosse. Der Tod sitzt allerdings – vanitas vanitatum – schon da fies grinsend auf dem Kutschbock.
Als man Manon des Juwelendiebstahls überführt, wird daraus ein Schinderkarren. Und nach der Deportation nach Amerika bleibt von all dem Prunk nichts als ein klappriges Gefährt, das sie anstelle der Rösser selber ziehen muss – buchstäblich bis zum Umfallen. Allerdings weicht ihr auch bei ihrem Niedergang einer nicht von der Seite: Es ist der Chevalier Des Grieux, den Kosky geschickt aus dem Rollenmuster des bloss dauerverliebten Tenorhelden befreit. Des Grieux ist bei ihm offenbar ein Dichter, vielleicht jener Abbé Prévost, der 1731 mit seiner «Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut» die Vorlage für Puccinis Oper geliefert hat – wie auch schon für die konkurrierenden Vertonungen von Auber und von Massenet.
Anders als der Abbé in seiner «Chronique scandaleuse» verurteilt dieser Dichter Manon nicht mit fadenscheinigen Moralargumenten. Des Grieux’ anfangs eher betrachtende Schwärmerei für Manon verwandelt sich rasch in rückhaltlose Faszination, die ihn am Ende mit ihr ins Verderben stürzen lässt. Saimir Pirgu, in Zürich schon als Pinkerton in «Madama Butterfly» und als Don José in «Carmen» gefeiert, ist da ganz in seinem Element: Er weiss, wie man diesen leicht klischeehaft wirkenden Lover-Typen Tiefe und Charakter verleiht. Sein Des Grieux nimmt Manons Prunksucht, sogar ihre sexuellen Eskapaden als das, was sie eigentlich sind: Ausdruck einer tiefen inneren Einsamkeit.
All seine Leidenschaft – und Pirgu hat viel davon in seiner fast makellos strahlenden Stimme – zielt darauf, Manon vor dem weiteren sozialen Abstieg zu bewahren. Dass dies absehbar misslingt, lässt die Figur tatsächlich tragisch, nicht anrüchig wirken. Stikhina wiederum nutzt dies, um die namentlich durch Maria Callas berühmt gewordene Sterbeszene «Sola, perduta, abbandonata» im vierten Akt zum berührenden Höhepunkt der Aufführung zu machen. Hier wie schon zuvor wird sie vorbildlich unterstützt durch Marco Armiliato am Pult der Philharmonia Zürich, der alle Sänger förmlich durch das Geschehen trägt; etwa auch Konstantin Shushakov in der zwielichtigen Nebenrolle des Bruders Lescaut, der eigene, kupplerische Ambitionen mit (und auf!) Manon verfolgt.
Armiliato gelingt das Kunststück, Puccinis raffinierte Orchestrierung in ihrer ganzen Klangsinnlichkeit aufzufächern, ohne die stark geforderten Sänger zusätzlich unter Druck zu setzen. Das ist in der direkten, schnell intransparenten Akustik des Opernhauses eine Herausforderung. Armiliato setzt aber, wie schon in seiner eindringlichen Interpretation von «La Rondine» im Herbst 2023, auf die vielen solistischen und kammermusikalischen Momente. Er wendet so den opernhaften Überschwang immer wieder ins Intime und Wahrhaftige. Die glückliche Hand, die das Opernhaus seit einigen Spielzeiten mit Puccini-Premieren hat – sie bewährt sich hier ein weiteres Mal.