Der 26-Jährige führt im Gesamtweltcup und in drei Disziplinenwertungen. Er treibt die Entwicklung bei seinem Ausrüster Stöckli voran, fährt aber keine speziellen Modelle, sondern holt mehr aus den Ski heraus als alle anderen.
Wie ist das möglich? Wenn Marco Odermatt seine Ski durch die Kurven jagt, hat man den Eindruck, er fahre auf Schienen. Ob es eisig ist oder weich, ob die Piste ein Teppich ist oder ein Rumpelparcours – der 26-Jährige rast in seiner eigenen Welt, und die Zuschauer staunen.
Das ist umso erstaunlicher, als seine wichtigsten Werkzeuge, die Ski an seinen Füssen, aus einer kleinen Manufaktur stammen. Bei der Skifirma Stöckli ist Odermatt der einzige Athlet der absoluten Topklasse, beim Bau neuer Modelle muss man sich fast exklusiv auf seine Feedbacks stützen. Es ist fast unglaublich, dass so am Laufmeter Siegerski entstehen.
Hermann Maier war Teil einer Atomic-Armada
Vergleichen wir ihn mit Hermann Maier, dem letzten Athleten, der wie heute Odermatt gleichzeitig in Abfahrt, Super-G und Riesenslalom die Nummer 1 der Welt war. Der Österreicher trainierte damals in der Gruppe WC 3, der lauter Siegfahrer aus den oben genannten Disziplinen angehörten.
Neben Maier waren das: Stephan Eberharter, Andreas Schifferer, Hans Knauss, Josef Strobl. Und alle fuhren Atomic-Ski. Da kamen viele Informationen zusammen, und es gab sogar einen gemeinsamen Pool von Ski, die untereinander getauscht wurden.
Odermatt scheint auch bezüglich Material ein Ausnahmeathlet zu sein. Leiter Rennsport bei Stöckli ist Marc Gisin, einst Teamkollege des heutigen Dominators im Weltcup. «Odi war schon früh sehr abgeklärt: mental, wie er ein Rennen anging – und auch beim Material», sagt Gisin. Auf die Ski bezogen bedeutet das: Er weiss, was er will, und gibt sehr präzise Feedbacks. Aber er verzettelt sich nicht in Details.
Gisin erwog als Athlet selbst einmal einen Wechsel zu Stöckli. Als sich 2014 das Reglement für die Konstruktion von Rennski änderte, war sein damaliger Ausrüster Nordica extrem gefordert. Der Schweizer entschied sich für den französischen Konzern Rossignol, weil sich dieser bei der Entwicklung auf die Inputs zahlreicher Spitzenfahrer stützen konnte.
Der frühere Speed-Spezialist sagt aber auch: «Es hat mich damals schon beeindruckt, wie es Stöckli schaffte mit einem kleinen Team.» In jener Zeit fokussierte sich die Schweizer Firma stark auf Tina Maze, die 2013 den Gesamtweltcup gewann und 2014 Olympiasiegerin in Abfahrt und Riesenslalom wurde.
Marco Odermatt wechselte als Zwölfjähriger zu Stöckli. Als die Firma 2022 den Vertrag mit ihm verlängerte, legte sie offen, wie der Athlet als Zwölfjähriger bei Stöckli gelandet war. Er lieh sich im Training Ski eines Kollegen aus und war damit sofort um anderthalb Sekunden schneller. Also wurde sein Vater Walter in Malters vorstellig. Der Sohn bekam neues Material – und siegte gleich im ersten Rennen nach dem Wechsel.
Seither ist er der Firma treu geblieben. Kontinuität scheint überhaupt eines der Erfolgsgeheimnisse Odermatts zu sein. Sein Servicemann heisst seit 2016 Chris Lödler, der Österreicher präparierte die Ski, auf denen der Nidwaldner 2018 fünffacher Juniorenweltmeister wurde, und er trägt entscheidend dazu bei, dass der derzeit beste Skirennfahrer der Welt stets mit der Überzeugung in die Kurve zieht, dass alles perfekt funktioniert.
Lödler ist der Mann, der sich in einem TV-Spot über Odermatts Ski beugt, während dessen Stimme im Off sagt, für Erfolg brauche es «Tüpflischiisser» – Leute, die bis ins letzte Detail alles perfekt machen wollen. Der Stöckli-Rennchef Gisin sagt: «Die beiden verstehen sich blind.»
Marcel Hirscher flog mit 20 Paar Ski nach Nordamerika
Materialfragen können zur Wissenschaft werden, und man kann sich darin verlieren. Das extremste Beispiel war wohl Marcel Hirscher, der gemeinsam mit seinem Vater unablässig am Material tüftelte und seinen Ausrüster Atomic bisweilen Tag und Nacht auf Trab hielt. Einmal flog er mit 20 verschiedenen Paar Ski zu einem Riesenslalom in Nordamerika.
Odermatt ist deutlich zurückhaltender. Laut Gisin verfügt er im Riesenslalom über rund ein halbes Dutzend Modelle, die je nach Schneebeschaffenheit, Kurssetzung und Topografie eingesetzt werden. Es kam schon vor, dass Odermatt für den zweiten Durchgang einen anderen Ski nahm oder an den Schuhen etwas veränderte. In diesem Winter nahm er aber laut Gisin – wenn überhaupt – nur marginale Anpassungen vor.
Es wird immer wieder kolportiert, dass Spitzenathleten Ski nutzten, die für andere unfahrbar seien. Didier Cuche bestätigte das, als er kürzlich in einem Gespräch sagte, er habe beim Wechsel zu Atomic ein Skimodell von Hermann Maier bekommen. Auf harter Unterlage habe er dieses im Griff gehabt, bei weichem Schnee aber sei er chancenlos gewesen.
Gisin sagt, Odermatt fahre zwar tatsächlich ziemlich harte Ski, aber der Top-20-Fahrer Thomas Tumler benutze die gleichen Modelle. «Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass Marco die Ski auch gegen Ende des Rennens noch voll biegen kann.» Damit wird im Material Energie aufgebaut, die sich beim Lösen nach der Kurve entlädt und so den Fahrer beschleunigt.
Dass sich bei Stöckli trotz den vielen Erfolgen nicht alles um Odermatt dreht, zeigt eine kleine Geschichte aus diesem Winter. Der Norweger Rasmus Windingstad hatte Mühe, mit der zur Verfügung stehenden Palette von Ski auf Touren zu kommen. Es wurde ein neues Modell gebaut, das sich besonders gut für den steilen Hang von Val-d’Isère eignen sollte. Windingstad setzte im ersten Durchgang auf einen älteren Ski und wurde 28. Dann wechselte er – und fuhr im zweiten Lauf die viertbeste Zeit.
Entwicklung sei in der Firma ein permanentes Thema, sagt Gisin. Inputs von Fahrern und Serviceleuten werden aufgenommen und diskutiert. Die eigentliche Entwicklungsabteilung, geleitet vom Ingenieur Mathieu Fauve, ist mit fünf Personen überraschend klein, aber effizient. Das zeigt auch die Tatsache, dass Odermatt in drei Disziplinen ganz vorne steht. Wenn er beim Material Defizite sieht, werden diese sofort angegangen.
Ein letztes Beispiel dafür gibt es aus den Speed-Disziplinen. Auf Schnee, wie er normalerweise in Kvitfjell und auch in Val Gardena liegt, kam der Schweizer nie wunschgemäss vorwärts. Deshalb wurden auf die vergangene Saison hin neue Modelle entwickelt. Seither fuhr er an diesen beiden Orten in sieben Rennen viermal aufs Podest, obwohl die Topografie der Strecken einen Techniker wie ihn nicht bevorteilt.
Kopf, Technik und Material – bei Marco Odermatt stimmt derzeit das ganze Paket. Die Konkurrenz muss sich fragen, wie sie die Lücke schliessen soll. Und er denkt bestimmt bereits über die nächsten Verbesserungen nach.
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