Am Dienstagabend kann Dortmund gegen PSG in den Champions-League-Final einziehen, im besten Fall verabschiedet sich Reus mit dem grössten Titel des Klubfussballs. Keiner verkörperte den BVB in den letzten zwölf Jahren so sehr wie der Offensivspieler.
Woran lässt sich zuverlässig erkennen, dass ein Spieler in den Status einer Legende aufgestiegen ist? Dass er als solche bezeichnet wird, genügt nicht. Es braucht ein paar aussergewöhnliche Eigenschaften, die über die blosse Leistung hinausweisen.
Marco Reus von Borussia Dortmund ist ein Spieler, der seinem Klub stets treu geblieben ist. Sein Trainer Edin Terzic sagte jüngst, nach einem 5:1 der Dortmunder gegen Augsburg: «Marco ist eine absolute Legende, hier geboren. Er hat zwölf Jahre hier Fussball gespielt, war fünf Jahre Captain, und heute hat er gezeigt, dass er zu den Besten der Welt gehört.»
Die Fans feierten Reus’ letzten Auftritt
Terzics Lob hat einen Anlass. Marco Reus wird seinen Vertrag mit Borussia Dortmund nicht mehr verlängern. Auf eine Entscheidung hatte Reus selber gedrängt; der Bescheid fiel anders aus, als er erhofft hatte.
Dass nun unweigerlich zu Ende geht, was in diesem schnelllebigen Geschäft so aussergewöhnlich erscheint, stimmt manche Fans betrüblich. Sie halten dem Klub eine stillose Trennung von dem Spieler vor, der am vergangenen Wochenende gegen Augsburg brillierte und zeigte, dass er auch mit seinen 34 Jahren eine Abwehr vor grosse Probleme stellen kann. Die Fans bejubelten Reus’ Auftritt wie einen Titelgewinn. Reus selber zeigte sich nach dem Abpfiff gerührt. Er sprach sogar vom aussergewöhnlichsten Tag seiner Karriere. Und das klang gar nicht mal kitschig.
Bloss ändert dies nichts daran, dass Reus, trotz der Lobpreisung von allen Seiten, Mühe auf dem Feld bekundet: In Sachen Athletik, Schnelligkeit und auch Zweikampfhärte stösst er an seine Grenzen, erst recht, wenn man sein Defensivverhalten analysiert. Wer ihn mit dem jungen Florian Wirtz von Bayer Leverkusen vergleicht, der sieht, was sich innert des letzten Jahrzehnts im Fussball auf allerhöchstem Niveau getan hat.
Maximal vier Spiele bleiben ihm also noch, um sich von der Borussia zu verabschieden. Diejenigen in der Bundesliga sind bedeutungslos; ob er in der Champions League zum Einsatz kommen wird, ist fraglich.
Jedenfalls wird er nicht in der Startformation stehen, wenn Borussia Dortmund am Dienstagabend zum Halbfinal-Rückspiel gegen Paris Saint-Germain antritt. Mit 2:1 hatten die Dortmunder das Hinspiel gewonnen, auf geradezu irritierende Weise glänzt die Mannschaft international, während sie sich in der Bundesliga lange schwertat.
Auch Steven Gerrard gewann nie die Meisterschaft
Reus als Champions-League-Sieger in Wembley, wo er 2013 im Final des Wettbewerbes am FC Bayern scheiterte: Das wäre die besondere Pointe zum Ende einer langen Karriere, die mit Titeln – abgesehen von zwei Siegen im DFB-Cup – nicht veredelt worden ist.
Sollte Reus mit dem BVB tatsächlich triumphieren, dann würde er gleichziehen mit dem Liverpooler Steven Gerrard. Der gewann 2005 in einem spektakulären Final gegen die AC Milan den Champions-League-Titel. Eine Meisterschaft allerdings errang Gerrard mit Liverpool nie. Und so steht Reus unfreiwillig für die Stagnation des BVB seit dem letzten Meistertitel 2012.
Gleichwohl ist Reus stets kickendes Inventar der Borussia geblieben. Er hat allerhand Trainer erlebt: Jürgen Klopp, Thomas Tuchel, Lucien Favre, Peter Stöger, Peter Bosz und Edin Terzic. Und wann immer er sich in guter Form zeigte, wurde offenbar, was für ein grossartiger Fussballer er ist. Über die Leichtigkeit, mit der er sich einen Weg durch die gegnerische Abwehr bahnte, verfügten auch international nicht viele Konkurrenten.
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— UEFA Champions League (@ChampionsLeague) May 3, 2024
In seinen besten Momenten wirkte Marco Reus beinahe schwerelos, allerdings auch fragil, und diese Fragilität wurde zum grössten Hemmnis seiner Karriere, die viel besser hätte ausfallen können. Seine Krankenakte ist so umfangreich wie die weniger anderer Bundesligaspieler.
Vor allem aber verhinderten die Ausfälle grosse Erfolge als Nationalspieler. Zwar kommt er auf 48 Länderspiele und 15 Tore – doch er fiel regelmässig immer dann aus, wenn ein grosses Turnier anstand. 2014, in seiner besten Zeit, wurde Deutschland ohne ihn Weltmeister.
Sein Status im Klub war dennoch unbestritten. Selbst als er nicht mehr Captain war, blieb sein Einfluss immens. Über seine Bedeutung für die Borussia geben weniger die Girlanden Auskunft, die ihm nun gewunden werden, als die Episoden, die davon berichten, was Reus sich alles hatte leisten können: Dass er jahrelang, ohne im Besitz eines Führerscheins zu sein, seinen Sportwagen durch die Dortmunder Innenstadt pilotierte, wurde ihm nachgesehen. Ein paar mahnende Worte, damit war die Sache aus der Welt.
Reus ist nicht der einzige vertragstreue Spieler
Andere mögen teurer gewesen sein als Marco Reus, der 2012 für 17 Millionen Euro aus Mönchengladbach kam. Doch kein anderer Spieler ist je von diesem Klub öffentlich so sehr gebauchpinselt worden wie er. Als der Klub in der Saison 2014/15 in Abstiegsgefahr geriet und ein Interesse der Bayern an Reus kolportiert wurde, griffen die Dortmunder tief ins Portemonnaie, um ihm einen langfristigen Vertrag zu offerieren – ja mehr noch: Der Klubchef Hans-Joachim Watzke sprach davon, dass die Verbindung von Reus zur Borussia mit derjenigen von Steven Gerrard zum FC Liverpool vergleichbar sei.
Gerrard und Liverpool – eine Kategorie tiefer ging es für Watzke damals nicht. Und doch ist etwas dran am Vergleich: Die Vertragstreue, die Reus an den Tag legt, ist aussergewöhnlich, auch wenn sie nicht unübertroffen ist: Thomas Müller ist seit mehr als sechzehn Jahren Profi des FC Bayern.
Dass Reus den BVB aber wie kein anderer verkörpert, war vor allem im Augenblick des Scheiterns zu erkennen. Im vergangenen Jahr brach der Offensivspieler ein, als der BVB im ausverkauften Westfalenstadion den Meistertitel am letzten Spieltag gegen Mainz verspielte.