International wird sie gefeiert als Interpretin komplexer Rollen wie der Lulu. Jetzt ist sie in Lehárs Operette «Lustiger Witwe» in Zürich zu sehen. Im Gespräch erzählt Petersen, warum sie sich nicht mehr von Jack the Ripper ermorden lassen möchte.
Die deutsche Sopranistin Marlis Petersen gilt als Spezialistin für komplexe Opernfiguren. In zehn verschiedenen Inszenierungen hat sie beispielsweise als Lulu in Alban Bergs gleichnamiger Oper weltweit Furore gemacht. Zwei Mal ist sie für ihre Darstellung dieser Partie bei der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift «Opernwelt» zur «Sängerin des Jahres» gekürt worden.
Aribert Reimann hat ihr die Titelrolle seiner «Medea» auf den Leib und in die Stimmbänder komponiert, auch als Interpretin bei dieser Uraufführung ist sie mit dem Ehrentitel «Sängerin des Jahres» honoriert worden. Und nochmals 2020 für ihre Marie/Marietta in Korngolds «Toter Stadt» in München und Strauss’ «Salome» im Theater an der Wien. Für eine solche Erfolgsserie genügen herausragende sängerische Leistungen nicht – «Sängerin des Jahres», das wird nur, wer auch über aussergewöhnliche darstellerische Fähigkeiten und eine eminente Bühnenpräsenz verfügt.
Eine Frau von heute
Jetzt stellt sich Marlis Petersen am Zürcher Opernhaus, das sie bisher nur von einem Einspringen als Sophie in einer «Rosenkavalier»-Aufführung und einem Liederabend vor bald zehn Jahren gekannt hat, als Hanna Glawari in Franz Lehárs «Lustiger Witwe» vor, mit einer Partie, die sie vor einigen Jahren für Aufführungen in Frankfurt und Dresden erarbeitet hat. Was hat sie zu diesem Abstecher ins Operettenfach bewogen?
Marlis Petersen braucht bei unserem Gespräch nicht lange zu überlegen: «Ob ich eine Partie annehme oder nicht, hängt von zwei Kriterien ab: Die Musik muss für meine Stimme passen, und ich muss mich mit der betreffenden Figur identifizieren können. Nach den vielen Frauen in Opferrollen, die ich während meiner Zeit im hohen Koloraturfach verkörpert habe, interessieren mich jetzt vor allem starke, selbstbestimmte Frauenfiguren.» Zu diesen zähle Hanna Glawari für sie unbedingt, betont Petersen.
«Eine reiche Witwe aus Pontevedro, einem Phantasieland mit viel Folklore, die im mondänen Paris ihrer grossen Jugendliebe, dem inzwischen verarmten Grafen Danilo, wiederbegegnet und sich einiges einfallen lässt, um ihn an sich zu binden. Das ist, wie ich finde, eine sehr heutige Frau, viel mehr als die Rosalinde in der ‹Fledermaus›, sie hat Witz und Charme, spielt das Mädchen vom Land so glaubhaft wie die Grande Dame. Und sie macht etwas aus ihrem Witwendasein.»
Leichtigkeit des Seins
Kann eine Operettenrolle auch Ausgleich oder Erholung sein nach all den Opernpartien im dramatischen Fach? Marlis Petersen sieht das überhaupt nicht so: «Manche Operettenrollen sind anspruchsvoller als Opernpartien. Man muss agiler und schneller sein, tanzen können, die Dialoge erfordern eine perfekte Diktion, sonst kommen die Pointen nicht rüber, und bei alledem muss man singend und spielend über dem Ganzen stehen, wenn das Bühnengeschehen leicht und beschwingt wirken soll.»
Mit ihrer Zusatzausbildung in Jazz- und Stepptanz und den Erfahrungen aus ihrem ersten Festengagement in Nürnberg, wo es damals noch ein eigenes Operettenensemble gab, in dem sie gerne mitwirkte, bringt Petersen alle Voraussetzungen für dieses Genre mit. Im Opernhaus und mit dem Ensemble der Neuproduktion hat sie sich sofort wohlgefühlt. Mit Katharina Konradi und Martin Winkler, die als Valencienne und Baron Mirko Zeta mit von der Partie sind, ist sie bei ihrem eindrucksvollen Debüt als Marschallin im Münchner «Rosenkavalier» und in der «Fledermaus» auf der Bühne gestanden. Michael Volle, den Danilo, kennt sie von gemeinsamen Konzerten.
Und Barrie Kosky, der die Lehár-Operette in Zürich inszeniert, war auch der Regisseur des Münchner «Rosenkavaliers». Mit Kosky arbeiten zu können, empfindet Marlis Petersen als Glücksfall: «Er ist omnipräsent, er dringt tief in die Geschichten und Emotionen ein, er hat menschliches Gespür für die Figuren wie für die Befindlichkeit der Darstellerinnen und Darsteller, er kennt das Theatermetier à fond, man fühlt sich von ihm getragen.»
Elfen, Nixen, Trolle
Was aber verbindet Marlis Petersen mit der Figur der Hanna Glawari? Auch sie führt, als Künstlerin und privat, ein selbstbestimmtes Leben. Wenn sie nicht ihren Engagements auf den Bühnen der Musikmetropolen nachkommt, lebt sie auf der griechischen Halbinsel Peloponnes in einem selbst entworfenen Haus, mitten in einem Olivenhain. Als Fortbewegungsmittel dient ihr ein schweres Motorrad. Das Meer, die Natur sind ihr Lebenselixir. Und nicht nur musikalisch, wie etwa auf der CD «Anderswelt», beschäftigt sie sich mit Naturwesen wie Elfen, Nixen und Trollen.
Petersen nimmt sich auch die Freiheit, attraktive Engagements abzulehnen oder Partien abzulegen, wenn die innere Übereinstimmung fehlt. So hat sie sich an der New Yorker Met und in München unterdessen von ihrer Paraderolle Lulu verabschiedet. Es hatte eine eigentümliche Richtigkeit und höhere Stimmigkeit, dass sie sich in der Münchner Inszenierung von Dmitri Tcherniakov nicht ein weiteres Mal von Jack the Ripper ermorden lassen musste, sondern sich als Bühnenfigur diesmal selber das Messer in den Bauch rammte. «Die Brutalität, die der Lulu widerfährt, hinterlässt nach so vielen Jahren einen Schatten auf der Seele, es war Zeit, die Rolle ziehen zu lassen», sagt Marlis Petersen. Zum Glück hat sie solche seelischen Verletzungen als Hanna Glawari nicht zu befürchten.
Opernhaus Zürich, ab 11. Februar.